Es sind die ersten freien Präsidentschaftswahlen in der Geschichte Tunesiens. Ein 87-jähriger Politveteran, der gerne vor Kameras twittert, will sie gewinnen.

Tunis - Bei der Jasmin-Revolution auf dem Boulevard Bourguiba in Tunis war sie vorne mit dabei. Damals, im Januar 2011, gehörte sie zu den mutigen Demokratieaktivistinnen, deren Aufstand den gesamten Globus bannte und Tunesien zur Wiege des Arabischen Frühlings machte. Heute dagegen setzt Amal Youssef auf einen betagten Großvater als ihr politisches Idol, sechs Jahrzehnte älter als sie. „Lang lebe Tunesien“, steht auf dem rot-weißen Schal, den die 27-Jährige sich um den Kopf gebunden hat. Mit Töchterchen Maja ist sie in die Coupole gekommen, den kreisrunden Sportpalast im Viertel Al-Menzah, wo 4000 Anhänger Beji Caid Essebsi bejubeln, den 87-jährigen Ex-Premierminister, Ex-Minister und Ex-Parlamentspräsidenten.

 

Seine politische Karriere unter den Autokraten Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali ist so alt wie das unabhängige Tunesien. Trotzdem hat der vitale Politveteran am Sonntag bei den ersten Präsidentenwahlen nach dem Arabischen Frühling gute Chancen, das höchste Staatsamt zu erringen. 92 Jahre wird er sein, wenn er die fünfjährige Amtszeit lebend übersteht. Die Zuhörer feiern ihren steinalten Favoriten aber wie einen blutjungen Popstar. „Ich bin so alt, wie ich bin, jeder ist so jung, wie er im Kopf jung ist“, kokettiert er. Tags zuvor hatte er sich demonstrativ mit iPad und jungen Mitstreitern beim Live-Twittern fotografieren lassen.

Es fehlen Politiker der mittleren Generation

Der alte Essebsi könne gleichzeitig an zwei Orten reden, spottete der Komiker Lotfi Abdelli – „zu einem geht er selbst, zum anderen schickt er seine dritten Zähne“ – eine Sottise, die ihm einen Shitstorm im Internet eintrug. Auch Amal Youssef gibt zu, dass sie immer wieder von Zweifeln geplagt wird. „Dann frage ich mich, warum wir jungen Leute auf diesen alten Mann setzen“, sagt sie, die Jura studierte, keinen Job als Anwältin fand und in einem Maniküre-Studio arbeitet. Aber es gebe keinen Politiker in der mittleren Generation, der das schlingernde Tunesien zusammenhalten und in ruhigeres Fahrwasser steuern könne. „Ben Alis Diktatur hat den politischen Nachwuchs zerstört, in unserer Politik klafft ein riesiges Generationenloch.“

27 Kandidaten sind für das Präsidentenamt in Tunesien angetreten, den ersten freien Wahlen zum Staatsoberhaupt in der Geschichte des Landes. Die meisten sind „Null Komma“-Bewerber, chancenlos und unsichtbar – in den letzten Tagen haben ein halbes Dutzend bereits das Handtuch geworfen. Nur wenige können vorne mitmischen – neben Essebsi sein Hauptrivale, Übergangspräsident Moncef Marzouki, sowie der linke Volksfrontpolitiker Hamma Hammami, die ebenfalls eine Sportarena wie die Coupole füllen könnten. Tunesiens Muslimbruderschaft dagegen tritt nicht mit einem eigenen Kandidaten an, obwohl Ennahda bei den Parlamentswahlen vor vier Wochen mit 69 Sitzen als zweitstärkste Kraft in das neue 217-köpfige Plenum einzog. Und so ist die straff organisierte Islamistenpartei, die mindestens ein Viertel aller Stimmen kontrolliert, bei jedem Wahlkampfauftritt wie ein Schatten dabei.