Das Vorgehen der Karlsruher OLG-Präsidentin gegen einen zu langsamen Richter verunsichert den Berufsstand: Droht bald überall solcher Druck?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Mit seiner Gerichtspräsidentin Christine Hügel hat der Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe Thomas S. eines gemein: über beiden schwebt, in der gleichen Angelegenheit, jeweils eine Art Damoklesschwert. Trifft es ihn, kann sie aufatmen, bleibt er verschont, muss sie zittern.

 

Das Damoklesschwert über Thomas S. ist eine bundesweit wohl einmalige Ermahnung durch Hügel. Die OLG-Präsidentin hatte ihm vorgehalten, er arbeite zu langsam und bleibe deshalb „ganz erheblich“ hinter dem Durchschnittspensum seiner Kollegen zurück. Dadurch werde der Anspruch der Bürger unterhöhlt, in angemessener Zeit Rechtsschutz zu erhalten. Fortan, verlangte die Chefin, solle S. seine Fälle „ordnungsgemäß und unverzögert“ erledigen. Hat der Rüffel vor der Dienstgerichtsbarkeit Bestand und ändert der Richter seine Arbeitsweise nicht, droht ihm ein Disziplinarverfahren, womöglich mit Geldbuße und Gehaltskürzung.

Über Dienstaufsichtsbeschwerde noch nicht entschieden

Das Damoklesschwert über Hügel ist eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die S. daraufhin beim Stuttgarter Justizministerium gegen sie erhoben hat. Ihr Vorgehen sei ein beispielloser „Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit“, empört er sich. Er solle dazu angehalten werden, weniger gründlich und sorgfältig zu arbeiten. Dabei müsse jeder Richter selbst entscheiden, welchen Aufwand er im Einzelfall für notwendig halte. Sollte der Rüffel von den Dienstgerichten kassiert werden, droht der OLG-Chefin ihrerseits ein Disziplinarverfahren – ebenfalls mit weitreichenden Folgen.

Die ersten Äußerungen aus dem Ressort von Rainer Stickelberger (SPD) klangen noch so, als ob das Ministerium voll hinter der Gerichtspräsidentin stehe. Den Aufsatz eines Rechtsprofessors, der scharf mit ihr ins Gericht ging und Thomas S. bestärkte, kommentierte es eher kritisch. Ohne Rückendeckung aus Stuttgart, vermuteten Justizkenner, wäre Hügel wohl kaum so weit vorgeprescht. Doch das erscheint inzwischen nicht mehr so sicher. Auch nach bald einem Jahr hat Stickelbergers Haus noch nicht über die Dienstaufsichtsbeschwerde entschieden - „aus Respekt vor der Dritten Gewalt“, wie eine Sprecherin sagt. Erst wenn die laufenden gerichtlichen Verfahren rechtskräftig beendet seien, könne man eine „abschließende rechtliche Würdigung vornehmen”. Das kann noch dauern, denn der Präzedenzfall geht womöglich hinauf bis zum Bundesgerichtshof. Bisher hat nur die erste Instanz entschieden, das Richterdienstgericht in Karlsruhe. Die Ermahnung sei zulässig gewesen, urteilten die Richter bereits im Dezember 2012, auch wenn S. nicht vorgeworfen werde, zu wenig zu arbeiten. Für eine Sonderprüfung seines Referates, die der Richter als Einschüchterung empfand, habe es ebenfalls genug Anlass gegeben. Nur in einem Punkt bekam der Kläger recht: Hügel hätte ihm nicht vorgeben dürfen, in welcher Reihenfolge er eilbedürftige Verfahren zu bearbeiten habe. Das falle nun wirklich unter die richterliche Unabhängigkeit.

Dienstgerichtshof soll „Fehlurteil“ kassieren

Gegen das Urteil hat S. Berufung bei der nächsten Instanz, dem Dienstgerichtshof für Richter in Stuttgart, eingelegt. Dort ist bisher noch keine Verhandlung terminiert. Die Karlsruher Entscheidung, argumentiert seine Anwältin Christina Gröbmayr, sei in mehrerlei Hinsicht ein Fehlurteil: Völlig unkritisch habe das Gericht die Sichtweise der OLG-Chefin übernommen. Dabei seien – zum Beispiel – Durchschnittszahlen kein brauchbarer Maßstab, um die Arbeit von Richtern zu beurteilen. Auch der Versuch, gegen einen einzelnen Richter aus einem Kollegialgericht vorzugehen, müsse scheitern. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf die sich das Urteil beziehe, passe gerade nicht auf den Fall. Für Gröbmayr hat das Verfahren zudem eine „politische Dimension“: Sein Ausgang entscheide mit darüber, wie die Politik künftig dem Ressourcenbedarf der Justiz nachkommen müsse. Es sei symptomatisch, dass der Fall just in Baden-Württemberg spiele, das im Bundesvergleich gemessen an den Einwohnerzahlen die geringste Richterdichte aufweise.

Die Vermutung, hinter ihrem Vorgehen stecke eine „politische Mission“, weist Hügel zwar zurück. Aber auch für sie geht es um die Ressourcen der Justiz, deren Umfang letztlich „Ausfluss der demokratischen Willensbildung“ des Gesetzgebers sei: Die dritte Gewalt sei verpflichtet, ihre Aufgaben innerhalb dieses Rahmens „bestmöglich zu erledigen“. Kern des Streits ist für die OLG-Präsidentin die Frage, ob der von einem Richter geschuldete Einsatz messbar sei „und wenn ja, mit welchem Maßstab“. Die richterliche Unabhängigkeit dürfe kein „Freibrief“ sein, um die Arbeitsbelastung nach Belieben zu gestalten. In allen drei Punkten sei die Berufung als unbegründet zurückzuweisen, beantragte Hügel.

Richter wegen Befangenheit abgelehnt

Verzögert wird das Verfahren vor dem Dienstgerichtshof durch einen Befangenheitsantrag gegen einen Richter, der schon im Präsidium OLG Karlsruhe wiederholt mit dem Fall S. befasst war. Dort habe er die „rechtswidrigen Maßnahmen“ der Präsidentin mitgetragen, argumentiert S.’ Anwältin. Hügel sieht in der Vorbefassung indes keinen Grund für eine Befangenheit. Legte man diese derart eng aus, würden sich im ganzen Land „kaum noch Richter finden lassen“, die sich nicht bereits eine Meinung zu dem Streit gebildet hätten.

Als Damoklesschwert empfinden übrigens auch viele Richterinnen und Richter das Verfahren. Nicht nur die linksliberale Neue Richtervereinigung (NRV) sieht durch Hügels Vorgehen „die Richterschaft in ganz Deutschland verunsichert“. Viele Kollegen, die trotz hohen Einsatzes weniger Fälle erledigten als andere, fragten sich bang, ob sie „jetzt auch mit Disziplinarmaßnahmen rechnen“ müssten. Die zuständige NRV-Fachgruppe auf Bundesebene fordert bereits vor Monaten die Suspendierung der OLG-Chefin, bisher vergebens.

Richterbund sieht keine verschärfte Gangart

Eine breite Besorgnis registriert auch der eher konservative Richterbund. Viele Kollegen bangten, „ob nun auch ihr Tun mit geänderten – verschärften – Maßstäben bewertet wird“, schrieb der Landesvorsitzende Matthias Grewe an die Mitglieder. Einer Reduzierung der richterlichen Tätigkeit auf bloße Erledigungszahlen träte man „selbstverständlich entschieden entgegen“. Allerdings gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorgehen gegen Thomas S. „Ausdruck einer verschärften Gangart“ sei, beruhigte Grewe per Rundbrief seine Kollegen. Sämtliche befragten Gerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte hätten ihm bestätigt, dass es sich um einen „isoliert zu betrachtenden Ausnahmefall“ handele. Trotzdem bleibe man wachsam. Was den Fall angeblich so unvergleichbar macht, wurde nicht erläutert.

Womöglich bezogen sich die Auskünfte nicht nur auf Thomas S., der manchen als eigensinniger Querkopf gilt, sondern auch auf Christine Hügel. In hohen Justizkreisen – bis hinein ins Ministerium – herrscht Kopfschütteln über die Art und Weise, wie die OLG-Chefin den Fall eskalieren ließ. Auch wenn ihr Vorgehen rechtmäßig sein sollte, hört man öfter, klug sei es gewiss nicht: „So etwas löst man anders.“