Manchmal fällt einem die Gleichförmigkeit des Lebens wie ein Stein auf den Kopf. Jan Neumann hat daraus "Frey!" - und einen großartigen Theaterabend gemacht.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wenn sich beim Blick auf die eigenen Kinder nur noch ihre Hautunreinheiten aufdrängen, wenn die Ehefrau statt des Gefühls von Schmetterlingen im Bauch nur noch Assoziationen mit einem flugfaulen Gänsegeier auslöst, wenn man beginnt, mit Töpfen und Pfannen zu sprechen, dann wird es Zeit innezuhalten. Es gibt verschiedene Weisen, dem gähnenden Trott der Alltäglichkeit zu entfliehen. Die einen machen weite Reisen, andere grübeln über Schopenhauers Satz vom Grund und die dritten gehen ins Domina-Studio, um dort eine klare und deutliche Antwort auf die Frage zu erhalten: Was hat das Leben nur aus mir gemacht?

 

Um dies zu erfahren, kann man aber auch einfach nur ins Theater gehen. Das erspart manchen Um- und Irrweg. Dort nämlich, in der Spielstätte Nord des Schauspiels Stuttgart, hat der begnadete Stückentwickler und Regisseur Jan Neumann den liebenswürdigen Versicherungsangestellten Friedbert Frey auf den Weg geschickt, um die Aporien der Freiheit auszuloten.

Wie ein Candide, auf der Suche nach der besten aller Freiheiten, reist er durch die Welt, und findet doch nur Widersprüche, Eitelkeit und Enttäuschung. Die Gesichter der Freiheit zeigen sich ihm haltlos und problembehaftet, dem Zuschauer aber hinreichend bunt und pittoresk, um Freys Erkundung auf jeden Fall nicht als vergeblich erscheinen zu lassen. Die Bühne von Matthias Werner gleicht dem Verdauungstrakt der gefräßigen Zeit, ein System kommunizierender Säckchen, aus denen das vergehende Dasein herabrieselt. Oder ist es der Sand, der einem in die Augen gestreut wird, um von der Eigenart dieses Theatertagtraums entrückt zu werden?

Der Fluch der Alltäglichkeit

Der animistische Zauber von Jan Neumanns Theaterkunst, verleiht allem eine Seele, dem deutschen Durchschnittsbürger, dem leeren Raum, Töpfen und Pfannen - und einem Text, der für sich betrachtet kaum der Rede wert wäre, auf der Bühne aber zu leben beginnt. Der Fluch der Alltäglichkeit ist einer der Routine, der Wiederholung, der Abstumpfung. Jan Neumann und seine wunderbaren Schauspieler - neben der sich sympathisch in der Titelrolle durch die Welt tastenden Gabriele Hintermeier, Silja Bächli, Matthias Kelle, Sebastian Röhrle und Jens Winterstein - zeigen eine Liebe zu den kleinsten unbedeutendsten Dingen. Und ihnen gelingen damit Einblicke und Atmosphären, wie sie den größten Effektmaschinen bis hin zum Film in der Regel versagt bleiben.

Manchmal freilich blickt das Nichts durch Lücken und luftige Passagen drohend herein, wird das wundersame Hirngespinst dieses Freiheitstraums gefährlich fadenscheinig. Kalauernde Wortspiele, chaplineske Watscheleien werden dann zum Vehikel, den guten Herrn Frey über die Luftlöcher der Erfindung hinwegzutragen. Doch vor dem Sturz ins Bodenlose bewahrt ihn immer wieder in letzter Minute eines jener kleinen Theaterwunder, die es Neumann und seiner Theatertruppe zuverlässig gelingt zu entbinden.

Es sollte einem zu denken geben, dass zu den stärksten Passagen des Abends die Orchestrierung eben jener Gewöhnlichkeit gehört, die Herr Frey zu fliehen trachtet. Vielleicht sind die wirklich staunenswertesten Dinge ja eben nicht in Bergeinsamkeiten, nicht in der Wüste Gobi oder auf den Highways Amerikas zu finden, sondern ganz nah, vor der eigenen Haustüre. Mit Blick auf Jan Neumanns Theaterabend zumindest scheint dies der Fall.

Die nächsten Vorstellungen: 21. bis 23., 25., 28. und 30. Dezember