Wie das Theater buchstäblich ins Verrückte drehen kann, beweisen Jossi Wieler und Sergio Morabito mit ihren albtraumartigen Sequenzen, die sie sich für Peter Tschaikowskis „Pique Dame“ in Stuttgart ausgedacht haben.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Wer auf dem Theater lediglich „Produkte zur Abendunterhaltung“ verkaufe, könne den jeweiligen Laden auch gleich zusperren, unkte der Dramatiker Heiner Müller bereits Mitte der neunziger Jahre. Er hatte ein anderes Überlebensmodell im Sinn und nannte dies – die Praxis der Berliner Volksbühne vor Augen - die Verabsolutierung von Theater. An dieser Marge hat sich, bis in diese, seine letzten Intendantentage hinein, dann Frank Castorf abgearbeitet, bei dem die Eingemeindung und oft resultative Überforderung des Zuschauers zum Programm wurde: Abende konnten gar nicht lang und metaphorisch-symbolisch überfrachtet genug ausfallen. Als das, manchmal, auch ein wenig eine Masche wurde, bändigte Castorf sich gewissermaßen selbst, indem er seine Regie dem Formdiktat der Oper und ihrer nun mal weitgehend festgefügten Abläufe unterwarf. Sofortige dramaturgische Revolte inklusive. Große Teile der Bayreuther „Ring“-Inszenierung und die politisch bis zum Bersten aufgeladene Stuttgarter Interpretation von Charles Gounods „Faust“-Stoff vom Anfang der Spielzeit stehen beispielhaft für das, was Theater nun mal braucht: eine Haltung zur Welt.

 

Aber auch eine ästhetische Umkehrbewegung ist zu verzeichnen, wenn, wie zuletzt in Salzburg und Prag, Uraltkonzepte von Herbert von Karajan als Ausstatter („Walküre“, zuerst 1967 gezeigt) oder fränkisch-biedermeierliches Stehtheater von Wolfgang Wagner („Lohengrin“, Anno 68) heutzutage Eins zu Eins reproduziert werden. Als wäre nichts passiert rings um uns her und in den Häusern, von denen Pierre Boulez damals meinte, sie sollten am besten allesamt in die Luft fliegen. Wunderlich oder nicht: Dafür gibt es ebenfalls ein Publikum. Noch.

Der dritte Weg

Einen dritten Weg, mutmaßlich den auf Dauer am meisten noch Erfolg versprechenden, geht die Stuttgarter Oper konsequent in den Produktionen des Teams Jossi Wieler und Sergio Morabito seit nunmehr fast einem Vierteljahrhundert, in dem man sich gemeinsam von Mozart über Wagner bis hin zu Donizetti intellektuell durch geläutert hat. Immer wieder mit erstaunlich zeitbezogenen und gesamtgesellschaftlich interessanten Ergebnissen. Wer hätte im Ernst gedacht, dass aus der Ritterrüstungsromanze „I Puritani“ eine grundsätzliche Analyse zum Fundamentalismus zu gewinnen gewesen wäre? Oder dass sich Händels „Ariodante“ als Meisterkurs zu Gendertheorien und der Theaterpraxis in nuce erweisen würde?

Peter Tschaikowskis „Pique Dame“ von 1890 allerdings stellt Wieler und Morabito noch einmal vor eine besondere Bewährungsprobe, überlässt sich die Oper doch, wie Morabito sehr animiert im Programmheft schreibt, „einer fast schon pathologisch anmutenden Assoziationsflucht“. Und allerdings: aus den knapp zwanzig Seiten psychologisch kontrollierter Puschkin-Novelle, in der ein haltloser Student, Hermann, zuerst einer Frau verfällt und dann dem Glücksrausch beim Kartenspiel (was ihn ins Irrenhaus bringt und Lisa eine Vernunftehe ein), wird bei Tschaikowski eine historisierende Geschichte, in der die Umrisse der Personen und das zeitliche Kontinuum verschwimmen: „Pique Dame“ spielt, vor allem in den Erinnerungen der geisterhaften Gräfin, der Hermann das Geheimnis des Gewinncodes (Der-Sieben-As) entlocken will, dann auf einmal wieder vor der Französischen Revolution.