Im Club Zollamt wird eine Gehörlosenoper aufgeführt. Gesang bekommt man zwar nicht zu hören, aber experimentelle Klänge, die nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren sind. Für das Musiktheaterprojekt wurde auch eine gehörlose Schülerin gewonnen, die bereits in einem Tatort aufgetreten ist.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Und plötzlich steht man vor der verschlossenen Tür, draußen vor dem Club Zollamt. Eben noch konnte man „Krespel“ (Tobias Loth) zuschauen, wie er an seinen experimentellen Instrumenten gewerkelt und geschraubt hat – oder man hat diese gleich selbst ausprobiert, ob Geige oder Schreibmaschine. Und dann hat einen eben jener Mann irre guckend ohne Worte nach draußen befördert und die schwere Tür zugeschlagen.

 

Drinnen im Club geht ein Alarm los, draußen herrscht Verwirrung. Und nun? Alle schauen sich fragend an. Ein seltsam gekleideter junger Mann mit einer Handtasche übernimmt die Initiative. Er sucht nach einem Weg zurück hinein, klettert auf einen Leitungskasten, schaut in Fenster, drückt Türklinken, bis er endlich eine offene Tür entdeckt. Auch er spricht dabei die ganze Zeit kein Wort.

Wenig später: die Entdeckung hinter Plastikvorhängen. Im Scheinwerferlicht sitzt ein Mädchen. Antonia (Jessica Jaksa) ist verborgen von einem Deckenkleid. Als Theodor (Louis von Klipstein) sie vorsichtig am Herzen berührt: Bumm! Dann wieder: Bumm! Die Basstöne sind laut, vibrieren. Sie sind nicht nur zu hören, sondern auch zu fühlen – und genau das ist gewollt. Denn dieses ist kein normales Theaterstück, es ist eine Gehörlosenoper.

In dem Musiktheaterprojekt. das für Gehörlose und Hörende gleichermaßen sein soll, wird die Musik gespürt – Vibration, Bässe und Lichteffekte ersetzen herkömmliche Klänge. Die Hörenden unter den Besuchern tragen deshalb auch Ohropax, um die Bedingungen anzugleichen. Rund eine Stunde dauert das Musiktheater, es spielt an verschiedenen Orten des Clubs Zollamt. Wie die Darsteller bewegen sich auch die Besucher durch den Raum, werden auch etwas einbezogen.

Die Idee zu dem Projekt hatte der künstlerische Leiter, Jeffrey Döring, für den es die erste große freie Szeneproduktion ist. „Wir suchen ein Theater, das auch für Hörende ästhetisch interessant ist“, erklärt Döring, der auch Vorsitzender des Vereins Goldstaub ist, der hinter dem Projekt steht. Der Verein will soziale Randgruppen in den Fokus rücken und ihnen einen Zugang zur Kulturlandschaft ermöglichen.

Besucher wegen sich mit den Darstellern durch den Club

In „Rat Krespel“ sollen laut Döring die beiden Welten der Hörenden und der Gehörlosen zusammengeführt werden, die sonst einander verschlossen sind. Als Schüler hatte Döring, der in Berlin Theaterwissenschaften und in Ludwigsburg Dramaturgie studiert hat, seinen ersten Kontakt mit der Welt der Gehörlosen: Für eine Lesung hat er mit einer Gebärdendolmetscherin zusammengearbeitet.

Auch die Stuttgarter Proben werden von einer Gebärdendolmetscherin unterstützt: Rita Wagner ist immer dabei, um zu übersetzen. Sie hat dem Team auch einige Gebärden beigebracht. Jessica Jaksa ist gehörlos, Louis von Klipstein und Tobias Loth hören.

Jeffrey Döring hatte Jessica Jaksa angeschrieben, nachdem er sie in einem Saarbrücker Tatort gesehen hatte. Ihr Berufskolleg, wo die 20-Jährige gerade ihr Abitur macht, stellte sie für die dreiwöchige Probephase frei. „Mir macht das großen Spaß. Ich hoffe, dass ich in Zukunft diesen Weg weiter gehen kann“, sagt die Schülerin. Es gebe nicht viele gehörlose Schauspieler.

Jessica gebärdet im Stück, ihre Kollegen nicht, sie „sprechen“ mit ihrem Körper, nicht mit dem Mund. Außerdem werden Schriftprojektionen eingesetzt. „Zuerst dachte ich ,Ist doch super, da muss ich keinen Text lernen’, doch dann habe ich gemerkt, dass das sehr intensiv ist“, sagt Tobias Loth. Wie sehr er sich über Sprache definiere, sei ihm durch das Projekt erst aufgegangen.

Gebärdensprache war an den Schulen verboten

Jeffrey Döring findet, dass die Novelle von E.T.A. Hoffmann „Rat Krespel“ perfekt zum Thema passe: „Antonia darf ihre Sprache nicht benutzen – und niemand fragt sie nach ihren Wünschen“, sagt Döring. Er sieht eine klare Parallele. Schließlich war die Gebärdensprache lange Jahre an Schulen verboten. In Hoffmanns Erzählung wird die schwerkranke Antonia, die eine zauberhafte Stimme hat, von ihrem Vater Krespel weggesperrt, weil sie ihr Gesang schwächt. Das Musiktheater interpretiert die Novelle neu. Theodor liebt Antonia, er will sie befreien. Dieser Moment ist sehr schön gelöst: Antonia und Theodor tanzen ihren Gesang. In der Novelle stirbt Antonia. Ob das im Club Zollamt auch so ist, erfahren die Zuschauer am Freitag, 30. Setember, bei der Premiere der Gehörlosenoper.