Fritz Katers „zeit zu lieben zeit zu sterben“ im Schauspiel Stuttgart erinnert an die Jugend in der DDR. Die interessiert sich aber nicht für Politik, sondern vor allem für Sex.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Sie heißen Anja und Marion, Ralf und Peter. Junge Leute sind sie, aufgewachsen irgendwo in Richtung Straußberger Platz in Ostberlin. Eine Jugend mit den Rolling Stones und Zungenküssen, mit Sportwettkämpfen und den Sex Pistols, Klassenfahrten, Liebeskummer und Koitus. Kathrin hat kleine Brüste und Sommersprossen. Thea ist die Zweitschönste in der Klasse, hat aber gar keine Brüste. Maria ist depressiv. Und irgendeiner ist immer in die falsche verliebt.

 

Dieser Jugend in der DDR hat der Autor Fritz Kater das Stück „zeit zu lieben zeit zu sterben“ gewidmet, das kurz vor Weihnachten – als modifizierte Übernahme aus dem Berliner Gorki, wo es 2012 uraufgeführt wurde – im Schauspielhaus Stuttgart herausgekommen ist. Es ist auch eine Art Livekonzert, denn eine Band begleitet die Schauspieler den gesamten Abend über mit rockigen Klängen, mit gut arrangierten Songs von Paul Anka, Neil Young und The Doors, mit „You are my destiny“ und „As It Comes“. Dazu viel Nebel und grelle Spots, also kein Theater im klassischen Sinne.

Junge Leute, die das Trinken trainieren

Aber Fritz Kater, wie sich der Schauspielintendant Armin Petras als Autor nennt, hat ohnehin kein Stück verfasst, sondern eröffnet „zeit zu lieben zeit zu sterben“ zunächst mit einem Prosatext, einem punkt- und kommalosen Erzählstrom, der hineinführt in den Mikrokosmos dieser jungen Leute, die Trinken trainieren und Parties feiern und nebenher aufs Erwachsenendasein zumarschieren.

In alltäglicher, schwarz-weißer Casual-Wear steht das Ensemble zunächst auf der Bühne. Der Regisseur Antú Romero Nunes hat diesen langen Wortfluss unter den Schauspielern verteilt. Erst allmählich kristallisieren sich Individuen heraus, zoomt das Stück im zweiten Teil wie mit einer Kamera das Leben einer Familie heran: Der Vater ist geflüchtet, die Mutter alleinerziehend, die beiden Brüder buhlen um dieselbe Frau. Armin Petras hat sich dabei von dem Film „Time Stands Still“ des ungarischen Regisseurs Péter Gothár aus dem Jahr 1982 inspirieren lassen. Auch bei ihm geht es um zwei Brüder, die die gleiche Frau begehren.

Auf der kreiselnden Drehbühne fährt das Leben vorbei

Doch auch die Familiengeschichte wird auf der unermüdlich kreiselnden Drehbühne abgelöst von neuen Szenen und Momenten. Lehrer und Klassenkameraden kommen und gehen, Freunde und Geliebte. En passant erfährt man, dass der ältere Bruder nicht studieren darf. Eines Tages steht Onkel Breuer vor der Tür und macht der alleinerziehenden Mutter den Hof. Der Sportlehrer triezt die Schüler, Dirk will sich in den Westen absetzen. Die schöne Adriana bringt den Alltag durcheinander.

Antú Romero Nunes hat diese vielen kleinen Blitzlichter aus dem Alltag kurzweilig inszeniert und illustriert die fast filmischen Sequenzen und Szenen wie im Jugendtheater mit Gesang, Pantomime und allerhand Ideen, denen sich die Darsteller spielfreudig hingeben. Da brettert ein Moped über die Bühne – dargestellt von nichts als zwei Schauspielern, die in der Hocke über die Bühne laufen samt einer qualmenden Nebelmaschine. Mit Badekappen auf dem Kopf kraulen sie durch die Luft. Schön ist auch, wie Peter Jordan immer wieder eine kleine Bewegungsfolge wiederholt – beginnend mit einem trotzigen Sprung, der übergeht in eine lässige Humphrey-Bogart-Pose. „Das Leben ist hart“, sagt Peter abgebrüht – und schlendert über den Schulhof.

Wie nebenbei erfährt man, dass sich hier einer umbringt, dort eine Schülerin desillusioniert von der Zukunft „in diesem Land“ die Schule abbricht. „Ich weiß, dass du weißt, dass ich es weiß“, sagt die Mutter (Susanne Böwe) – und man kann sich im Geist den Kontext ausmalen und ahnt die ewige Sorge der DDR-Bürger, niemandem wirklich vertrauen zu können.

Es geht um die Lust – und nicht um die DDR

Aber auch wenn die Schauspieler gelegentlich ins Sächsische verfallen und auch mal von Plaste, mal von einer Laube die Rede ist, vermittelt „zeit zu lieben zeit zu sterben“ doch wenig vom Lebensgefühl der DDR. Fritz Kater verzichtet auf jedes typische Kolorit oder auch die Stimmung, die im Osten geherrscht haben mag. Auch die Sprache ist unspezifisch – oder hat man damals in Ostberlin tatsächlich zum Lehrer „Du willst mich ficken?“ gesagt?

So nutzt das Stück die Folie der DDR letztlich nur als Vorwand, um ein Adoleszenzdrama zu erzählen, das sich vor allem auf die Kämpfe und Nöte vor und beim Koitus beschränken. Mag das System sie gängeln, die Politik ihre Zukunftspläne zunichte machen, diese jungen Leute beschäftigt doch nur eines: Sex. Da geht es um „steife Nippel“, und wieder und wieder ums „Ficken“. Einmal – „Wir sind bei ihr und ficken“ – geht allerdings irgendetwas schief. „Du bist ja ein Metzger“, schreit das Mädchen, „das war unser letztes Mal“ – und schrubbt die Flecken auf der Bettcouch mit Fitwasser weg.

So schwankt das Stück ständig zwischen existenziellen Fragen und völliger Banalität, und man ahnt, dass mit dem grobschlächtigen, abschätzigen Machogerede die Angst vor Gefühlen und Subtilitäten kaschiert werden soll. Als Dirk in den Westen abhaut und ihn dort die Einsamkeit überflutet, wird auch das nicht formuliert, sondern ausagiert: „Im Hotel fickte er sie hart.“

„Du musst einverstanden sein mit der Welt, in der du lebst, sonst ist sie mit dir nicht einverstanden“, sagt Onkel Breuer (Andreas Leupold) einmal zu Peter, der überlegt, in den Westen zu gehen. In „zeit zu lieben zeit zu sterben“ ziehen sich die jungen Leute letztlich aber doch ins private Glück zurück. „Halt dich an deiner Liebe fest“ singen die Schauspieler – und verteilen im Zuschauerraum Bier und Limo.