Eine Richtervereinigung alarmiert den baden-württembergischen Minister Stickelberger. Er will die fragwürdigen Fälle von zwangsweiser Unterbringung von Straftätern in der Psychiatrie prüfen und fordert Hinweise von den Richtern.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Auch in Baden-Württemberg soll es Menschen geben, die ebenso wie im bayerischen Fall Gustl Mollath unter rechtlich fragwürdigen Umständen zwangsweise in der Psychiatrie untergebracht sind. Darauf hat die Neue Richtervereinigung (NRV) jetzt in einem Brief an Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) hingewiesen. Der NRV-Landesvorsitzende Johann Bader schreibt darin, ihm lägen Informationen über Fälle vor, „die in ihrer Tragik und rechtlichen Bedenklichkeit mit dem Fall Mollath . . . vergleichbar sind“. Dies gelte „hinsichtlich der Anordnung und der Dauer der Unterbringung“ nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuches (siehe „Gesetzliche Regelung“). Zugleich appelliert Bader an den Minister, das Land solle sich über den Bundesrat für eine „grundlegende Revision“ dieser Regelung einsetzen.

 

Als Reaktion auf das Schreiben wird Stickelberger die Neue Richtervereinigung nun bitten, „Fälle angeblich rechtlich bedenklicher Unterbringungen konkret zu benennen“. Dies sagte eine Sprecherin des Ministers der StZ. Falls die NRV die Fälle nicht den für eine mögliche Abhilfe zuständigen Gerichten vorlegen wolle, solle sie diese „ihm gegenüber mitteilen“. Der Minister werde sie an die zuständigen Staatsanwaltschaften weiterleiten, damit diese gegebenenfalls „eine gerichtliche Überprüfung herbeiführen“ könnten. „Solange die angeblichen Missstände nicht konkret benannt sind, kann auch nicht geprüft werden, ob solche bestehen, ob es sich gegebenenfalls um fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall handelt oder ob sie Anlass geben, die rechtlichen Grundlagen zu ändern“, sagte die Sprecherin.

Schwierige Abwägung bei Unterbringung in Psychiatrie

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dient laut Ministerium dem Schutz der Allgemeinheit vor Personen, die im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit rechtswidrige Taten begangen haben und von denen in Zukunft erhebliche Taten drohen. Sie erfordere stets „eine schwierige Abwägung im Einzelfall“ zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit. Dabei müssten die begangenen Taten, die zu erwartenden Taten und der Grad der Gefahr bewertet werden.

Über die Anordnung der Unterbringung entscheide eine Große Strafkammer am Landgericht, also ein „besonders qualifizierter Spruchkörper“. Mindestens einmal jährlich prüfe die Strafvollstreckungskammer, ob die Betroffenen weiter in der Psychiatrie bleiben müssten.

Zweifelhafte Praktiken

Durch den Fall Mollath sieht der NRV-Chef Bader „die Praxis der Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern grundlegend infrage gestellt“. Nicht nur in Bayern genüge diese oft nicht rechtsstaatlichen Erfordernissen. Da die Vorschrift nicht auf bestimmte Delikte begrenzt sei, gebe es auch im Südwesten zeitlich unbegrenzte Unterbringungen etwa wegen Beleidigung, Nötigung oder einfacher Körperverletzung – Delikten also, die im Allgemeinen nur mit Geldstrafen geahndet würden. Zudem übersteige die Dauer der Unterbringung nicht selten die Dauer einer Freiheitsstrafe, die ein gesunder Täter selbst bei Wiederholungsgefahr verbüßen müsste, teilweise sogar um ein Mehrfaches.

Auch bei der notwendigen Diagnose einer psychischen Störung gibt es laut Bader zweifelhafte Praktiken. Es seien Fälle bekannt, in denen die Diagnose nur auf der Beobachtung des Angeklagten im Prozess und auf früher gestellte Diagnosen beruhe, die jedoch vom Gericht nicht überprüft worden seien. An das Justizministerium appelliert die Neue Richtervereinigung, dass es „nicht eine vergleichbare defensive Rolle übernimmt, wie dies in Bayern bedauerlicherweise der Fall war und ist“.

Anwalt sieht Handlungsbedarf

Unterstützt wird der Verband von dem Mannheimer Anwalt Günter Urbanczyk, der wiederholt in solchen Fällen tätig ist. „Handlungsbedarf“ sieht Urbanczyk etwa bei der Dauer der Unterbringung: Da für die Betroffenen „kein Ende abzusehen ist“, führe dies „mitunter zu völliger Hoffnungslosigkeit“. Selbst zu lebenslänglicher Haft Verurteilte könnten darauf hoffen, nach 15 Jahren freizukommen. Zweifel hat der Anwalt auch an der jährlichen Überprüfung: Diese sei „stark ritualisiert“ und von dem Bemühen der Gerichte geprägt, „nicht den Schwarzen Peter“ zu bekommen. „Fast der größte Missstand“ ist für ihn, dass die Unterbringung nicht nach Delikten differenziert geregelt ist. Als Beispiel für Missstände nannte Urbanczyk den Fall eines Untergebrachten, der nach einem Dreivierteljahr noch „keine spezifische Therapiestunde“ bekommen habe; hier finde offensichtlich nur eine „Verwahrung“ statt.

Justizminister Stickelberger sieht „derzeit“ keinen Grund, eine Initiative zur Reform des Paragrafen 63 zu starten. Weder die noch nicht konkret benannten Fälle im Schreiben der NRV noch der Fall Mollath gäbe Anlass dazu. Letzterer sei in Stuttgart nicht in Details bekannt und werde von der bayerischen Justiz aufgearbeitet.