In Meßkirch in Oberschwaben wird in den nächsten 40 Jahren mit mittelalterlichen Werkzeugen eine historische Siedlung gebaut. Vorlage ist der Klosterplan von St. Gallen.

Meßkirch - Zehn Jahre lang hat Erik Reuter auf seine Chance warten müssen. Eine elende Dekade, in der er sich und seine kleine Familie mit ungeliebten Jobs durchbringen musste. Jetzt darf der 43-Jährige das sein, was er immer sein wollte: Historiker. Reuter, der seine langen rotblonden Haare zu einem Zopf gebunden hat, ist der erste Wissenschaftler der Klosterstadt Meßkirch. Wenn das ambitionierte Projekt der experimentellen Archäologie am Samstag offiziell gestartet wird, gibt es einen Führer im Museumsshop zu kaufen. Den hat Reuter geschrieben. Man kann sagen, dass sein Leben in der oberschwäbischen Provinz eine glückliche Wendung genommen hat. Und da ist er nicht der einzige.

 

Meßkirch liegt am Fuße der Schwäbischen Alb und hat schon bessere Tage gesehen. Die Stadt, erstmals im Jahr 965 erwähnt, hatte früh Markt- und Stadtrecht und war Herrschaftssitz. Doch der mittelalterliche Stadtkern unterhalb des Renaissanceschlosses derer von Zimmern verblasst mehr und mehr. Viele der Häuser aus dem 14. und 15. Jahrhundert sind baufällig. Im Schloss gibt es ein Oldtimermuseum und eine wenig frequentierte Ausstellung über den Philosophen Martin Heidegger, dem berühmtesten Sohn der Stadt. 1972 wurde der Bahnverkehr eingestellt. Es fahren nur noch Busse nach Meßkirch. Die oberschwäbische Barockstraße und der Donauradwanderweg führen über den verschlafenen Flecken, in dem die Zeit irgendwo in den 80er Jahren stehen geblieben zu sein scheint. Die Arbeitslosigkeit steigt kontinuierlich, die Jungen wandern ab.

Vorbild ist ein nie gebautes Kloster in St. Gallen

Das Mittelalter soll den Ort wieder zum Leuchten bringen. 24 Hektar Wald und Ackerland unweit eines Naturschutzgebietes stellt die Stadt dafür zur Verfügung. Aus diesem Boden soll eine Siedlung nach dem Plan eines nie gebauten Klosters von St. Gallen in der Schweiz erwachsen.

Die Idee dazu stammt von Bert Geurten. Er kam vor zwei Jahren aus Aachen ins Oberschwäbische. Der Mann mit dem Schnauzbart ist ein ehemaliger Rundfunkjournalist, trägt gerne einen schwarz-gelben Schal seines Lieblingsfußballvereins Alemannia und steht eigentlich kurz vor der Rente. Aber jetzt soll er für Meßkirch ein Millionenprojekt managen.

Bert Geurten hat die Idee von der Mittelalterstadt schon lange

Geurten hatte Anfang des Jahrtausends im Kulturkanal Arte eine Doku über Guédelon gesehen. Im Burgund, unweit von Auxerre und rund 200 Kilometer südöstlich von Paris, meißeln, spachteln, hämmern Handwerker zusammen mit Laien seit 1997 an einer Burg wie aus dem 13. Jahrhundert zur Zeit Philips II. Alles mit den Mitteln und Werkzeugen aus dem Hochmittelalter. Warum nur eine Burg und nicht gleich eine ganze Stadt bauen? Geurten trug diese Idee sehr lange mit sich herum. Schon als 16-Jähriger hatte er bei einer Ausstellung ein Modell des Klosters St. Gallen gesehen und war fasziniert gewesen. Diesen Plan umzusetzen mit den Mitteln von vor 1200 Jahren – das wäre ein Lebensziel, dachte er sich.

In Aachen probierte er es zuerst. Dort, wo Karl der Große seit 814 begraben liegt. 33 Generationen trennen Geurten von dem Frankenkönig und Kaiser. Von ihm stammt er ab, ist der Rheinländer überzeugt – „in direkter Linie“. Aus dem Projekt wurde trotzdem nichts. Er versuchte es in 30 anderen kleinen und großen Städten. Gepasst hat es nie. Nun, fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Bekanntschaft mit dem Bauplan, wird die große Idee wohl wahr.

1,2 Millionen Euro für den Bau der Klosterstadt

In Meßkirch entflammte sich der Bürgermeister gleich für das Projekt, das Geurten „Campus Galli“ taufte. Den zögerlichen Gemeinderat schickte er im Bus nach Guédelon, wo der primitive Burgenbau jährlich 300 000 Gäste anlockt. Danach gaben die begeisterten Räte 400 000 Euro Anschubfinanzierung für den Campus-Galli-Verein frei. Weil das Land und die EU weitere 700 000 Euro beisteuerten, kann Geurten nun mit knapp 1,2 Millionen arbeiten.

Der Klosterplan von St. Gallen ist die früheste Darstellung eines Klosterbezirks aus dem Mittelalter. Er entstand vermutlich zwischen 819 und 826 im Kloster Reichenau, wurde aber nie in die Tat umgesetzt und ist noch immer im Besitz der Stiftsbibliothek St. Gallen. Der auf Pergament gezeichnete Bauplan zeigt Grundrisse von rund fünfzig Gebäuden, die mehr als hundert Mönchen sowie 200 Arbeitern und Dienern Platz bieten. An die große Klosterkirche schließen sich Skriptorium, Sakristei und eine Unterkunft für Gastmönche an. Um einen quadratischen Kreuzgang gruppiert sich die Klausur mit Dormitorium, Refektorium und den Latrinenanlagen. Daneben: ein Waschraum, eine Küche, ein Back-, ein Brau- und ein Gästehaus sowie die Pfalz des Abtes. Gedacht ist auch an ein Hospital und ein Novizenhaus. Weitere Wirtschaftsgebäude und Handwerksbetriebe, Gärten, Zäune, Mauern und Wege komplettieren die Anlage.

40 Jahre Bauzeit für die Klosterstadt

Diese Stadt will Bert Geurten bauen. Ganz langsam. 40 Jahre lang. Entschleunigt, würde man heute dazu sagen. Mit Mitteln und Werkzeugen des 9. Jahrhunderts, der Zeit Karls des Großen.

Reuter wollte dabei sein. An der Universität Aachen hat er Geschichtswissenschaft studiert, Schwerpunkt Antike und Mittelalter. Den Magister hat er über Gewürze in der Antike geschrieben. Nur, dass das nie jemanden interessierte. Als Historiker wollte ihn auch niemand haben. Den Versuch, ins Lehramt zu wechseln, brach der junge Familienvater gestresst wieder ab. Er war ein Gescheiterter mit Universitätsabschluss. Dann traf er Geurten, den Mann mit der Schnapsidee von der Klosterstadt. Die leuchtete Reuter ein. Was Besseres zu tun hatte er auch nicht.

Die meisten Helfer sind Langzeitarbeitslose

„Sie sind der erste Historiker, der sich für mein Projekt interessiert. Sie sind dabei“, bestimmte Geurten. Vor vier Jahren war das. Reuter hat viel mit Recherchen zu tun, denn es gibt nicht viele Quellen zum Alltagsleben im 9. Jahrhundert. Aber er packt auch an, wenn eine Hütte mit Lehm beschmiert wird. Seit diesem Jahr bekommen er und die anderen Helfer Lohn dafür. Große Gehälter zahlt Geurten vorerst nicht, er muss vorsichtig mit dem Geld umgehen. Dennoch konnte er sich vor Aspiranten nicht retten. Es gab mehr als 200 Bewerber, fast hundert wollten als Steinmetz arbeiten. Zwei davon wählte Geurten schließlich aus, dazu drei Schreiner, einen Töpfer, eine Seilerin, einen Zimmermann, der auf der Walz vorbeikam, und einen Schmied. Die meisten Helfer sind Langzeitarbeitslose. Als erstes werden sie eine Holzkirche errichten, die sich dann im Lauf der Jahre und Jahrzehnte zu einer stolzen Kathedrale entwickeln soll.

Danny Ludwig spitzt mit einem Beil Holzscheite an. Er ist Schmied von Beruf. Andy Ollinger, der Töpfer, war bis vor kurzem Kellner und hilft jetzt den anderen im Wald. Den Job bekam der Zwei-Meter-Koloss, weil er schon in der Schule gern mit Ton gewerkelt hatte. Trotz Temperaturen jenseits der 30 Grad Celsius stecken seine Waden in dicken Wickeln, wie sie im frühen Mittelalter als Schutz vor Kälte und Verletzungen getragen wurden.

Mittelalterpuristen wittern schnöden Kommerz

Von heute an sind sie auf Campus Galli ebenso Pflicht wie die klobigen Holzpantinen, in denen man ohne sprang gewebte Socken kaum laufen kann. Diese Technik des Strickens war schon den Wikingern bekannt. Jede Heugabel, jede Axt und jedes Kleidungsstück der Handwerker und Mönche muss handgearbeitet sein, so die Vorschrift – auch wenn bei der Fertigung der Gewänder am Ende die Nähmaschinen ratterten. Sonst wären sie bis zur Eröffnung nicht mehr fertig geworden.

Das wird den Mittelalterpuristen nicht gefallen, die bei Geurtens Projekt schon länger den Verrat am reinen, einfachen mittelalterlichen Handwerk und den schnöden Kommerz wittern. Weil 1,3 Kilometer Maschendrahtzaun statt einem Wall aus gefällten Bäumen gebaut wurden und der Schotterparkplatz nebst Auf- und Abfahrt für 80 Autos und zehn Busse mit Hilfe von Baggern und Planierraupen fertig gestellt wurde, hagelte es Kritik. Ein ehemaliger Mitarbeiter warf Geurten zudem die Vermittlung eines verfälschten Geschichtsbildes vor. Doch Geurten sagt, die Sicherheit gehe grundsätzlich vor, weshalb auch der Karren für die vier Ochsen eine Metallachse hat und die Variante mit der Holzachse noch ausgiebig getestet wird. Bis zur Eröffnung habe er, wo es nicht anders ging, auf Hilfen aus dem 21. Jahrhundert zurückgegriffen, sagt er. Aber von jetzt an soll auf dem Areal nur noch reinstes Mittelalter herrschen. Keine Cola und kein Wein, kein Cappuccino. Nur Wasser und Met. Und Pastinaken statt Kartoffeln. Ein 16-köpfiger Beirat aus Historikern, Architekten und Archäologen wacht darüber.

Prominente sollen für die Klosterstadt werben

Rund 120 000 Besucher benötigt Geurten im ersten Jahr, um durchzukommen und die 60 Mitarbeiter und Helfer bezahlen zu können. Die großen Reiseveranstalter freuten sich über das zusätzliche Angebot, heißt es. Doch in ihren Katalogen konnten sie den Mittelalterstopp auf dem Weg zum Bodensee kaum mehr unterbringen.

Damit die Sache bekannter wird, sollen Prominente für Meßkirch werben. Etwa Martin Schulz, der Europaratspräsident von der SPD, mit dem sich der alte Jungliberale Geurten schon in Aachen gestritten hatte. Oder Außenminister Guido Westerwelle, den Geurten früher im Wahlkampf unterstützt hat. Und zur Eröffnung wollen heute die Volksmusik-Geschwister Hofmann aus Sigmaringen was Schönes singen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann aus dem nur 15 Kilometer entfernten Laiz ließ sich entschuldigen. Geurten möchte ihn trotzdem möglichst bald auf seinem Gelände begrüßen. Irgendwann klappt es bestimmt, er hat ja noch viel Zeit. Wenn die Klosterstadt pünktlich eingeweiht wird, ist Bert Geurten 103 Jahre alt.