Bewohner der Diakonie Stetten arbeiten derzeit an einem sprechenden Buch über die Vernichtungsanstalt Grafeneck, über Euthanasie-Verbrechen und die Rolle ihrer Einrichtung.

Kernen - Das Schicksal von Helene Krötz hat Daniel Sabo besonders berührt. Ihren Namen hat der 32-Jährige, der als Bürohelfer bei den Remstal Werkstätten der Diakonie Stetten arbeitet, auf einer Transportliste entdeckt und markiert. Eine Kopie der Liste liegt vor ihm auf dem Tisch. Christa Rommel, die als Referentin für Bildung und Qualifizierung bei der Diakonie Stetten arbeitet, beugt sich über das Blatt Papier und sagt: „Vielleicht brauchen wir noch ein besseres Bild von der Originalliste.“ Denn die Geschichte von Helene Krötz aus Urbach soll ein Kapitel bilden in dem Buch, das Diakonie-Bewohner derzeit zum Thema Euthanasie-Verbrechen zusammenstellen. Helene Krötz lebte 14 Jahre in der Anstalt Stetten und wurde 1940 mit 21 Jahren in Grafeneck ermordet. Von den Euthanasie-Verbrechen habe er zwar gewusst, sagt Daniel Sabo: „Aber mir war nicht klar, dass dort auch 330 Leute aus Stetten ermordet worden sind.“

 

So gehe es vielen Menschen mit Behinderungen, sagt Franka Rößner. Die Historikerin arbeitet in der Gedenkstätte Grafeneck und stellt immer wieder fest: „Die Leute wissen zwar etwas über die Zeit des Nationalsozialismus, aber das Wissen ist relativ diffus. Denn in den Förderschulen war der Nationalsozialismus bis auf Ausnahmen lange Zeit kein Thema.“

Erste Veranstaltung dieser Art

Auch im Fortbildungsprogramm der Diakonie Stetten – die Bandbreite reicht vom Lachyoga-Seminar über Computer- und Kochkurse bis zur Schulung im Umgang mit Elektro-Hubwagen – habe es bislang keine Veranstaltungen zu Euthanasie-Verbrechen gegeben, sagt Christa Rommel. Doch dann wollte der Diakonie-Bewohner Achim Berroth, der mit seinen Eltern das Vernichtungslager Auschwitz in Polen besucht hatte, über seine Reise berichten.

Ein Vortrag mit Folgen. „Ich fand, dass wir eigentlich nicht über Auschwitz reden und dabei Grafeneck ignorieren können“, erinnert sich Christa Rommel (siehe auch „Barrierefreie Gedenkstätte“). Sie sorgte also dafür, dass Interessierte sich für eine Fahrt auf die Schwäbische Alb zur Gedenkstätte Grafeneck anmelden konnten.

Das Angebot war für sechs bis acht Interessierte gedacht. „Es kamen aber doppelt so viele Anmeldungen“, erzählt Christa Rommel. Die Besucher hatten „unfassbar viele Fragen“, erinnert sich die Historikerin Franka Rößner. Die Gedenkstätte Grafeneck ist in den vergangenen zwei Jahren zur barrierefreien Gedenkstätte umgestaltet worden – und das nicht nur im räumlichen Sinn. „Es wurde ein pädagogisch-didaktisches Konzept erarbeitet“, erzählt Franka Rößner. Das orientiere sich am normalen Programm, hebe aber manche Elemente stärker hervor. So spiele etwa der Ansatz, Geschichte an konkreten Orten und Einzelbiografien wie jener von Helene Krötz festzumachen, eine wichtige Rolle.

Ein sprechendes Buch soll Wissen verbreiten

„Eine Vor- und Nachbereitung ist wichtig“, sagt Franka Rößner. Rund die Hälfte der Teilnehmer wollte nach dem Besuch in Grafeneck weiter arbeiten an dem schwierigen Thema. Als Christa Rommel von einer Kollegin ein Buch mit leeren Seiten angeboten bekam, reifte der Entschluss: „Wir machen ein Buch, damit auch andere mehr erfahren können.“ So haben Daniel Sabo, Mechthild Weger, Rolf Seifert, Michael Bober, Jürgen Paulus und Achim Berroth zehn Themen festgelegt, die im Buch erscheinen sollen. Dann haben sie recherchiert, etwa im Archiv der Diakonie Stetten, und Franka Rößner per E-Mail mit Fragen bombardiert: alles sollte historisch korrekt dargestellt sein. „Man muss doch die Wahrheit sagen“, findet Rolf Seifert.

So sind kurze Texte entstanden, historische und aktuelle Fotos ergänzen die Kapitel über „Stetten und Grafeneck in der Nazizeit“, das Schloss Grafeneck oder das Museum. Damit auch jene, die Schwierigkeiten mit Buchstaben haben, den Band nutzen können, haben die Buchmacher die Aufnahmefunktion des „sprechenden“ Buchs genutzt und knappe Texte gesprochen, welche beim Aufblättern der Seiten abgespielt werden. Der Titel des Buchs steht fest. „Er heißt ,Geschichte mal anders’, denn es soll ja nicht historisch vollständig sein“, sagt Christa Rommel, für die ebenfalls feststeht, dass Fahrten nach Grafeneck nun fester Bestandteil des Weiterbildungsprogramms sein werden. „Die Erkenntnis ist, dass es wichtig ist, Fortbildungen auf hohem Niveau anzubieten.“

Barrierefreie Gedenkstätte

Vernichtungsanstalt
In Grafeneck bei Münsingen (Landkreis Reutlingen) begann im Jahr 1940 die „Aktion T4“, in deren Verlauf innerhalb eines Jahres unter nationalsozialistischer Herrschaft 10 654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet wurden. Mehr als 800 der ermordeten Menschen stammten aus evangelischen Einrichtungen der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg.

Modellprojekt
Seit dem Jahr 2014 entwickelt und erprobt die Gedenkstätte Grafeneck Bildungsangebote für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen. Mehr als 40 Gruppen haben die Gedenkstätte im Rahmen des Modellprojekts „barrierefreie Gedenkstätte“ inzwischen besucht.