Die Stadt will ein alteingesessenes Bordell im Leonhardsviertel schließen. Der nun folgende Rechtsstreit um die Rotlichtadresse hat womöglich grundsätzliche Bedeutung.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Der Halbsatz scheint bemerkenswert: „Entgegen der ständigen Rechtsprechung“ teilt das Regierungspräsidium die Rechtsauffassung des Bürgermeisteramts. So ist es in einem Schriftsatz eben des Regierungspräsidiums zu lesen, und die Rechtsauffassung ist, dass ein alteingesessenes Bordell im Leonhardsviertel schließen muss. Ob die ständige Rechtsprechung auch in diesem Fall anderer Ansicht ist, wird ein Gericht entscheiden. Der Bordellbetreiber, John Heer, hat gegen den Bescheid Klage eingereicht.

 

Im Detail ist die Rechtslage kompliziert, im Kern konzentriert sie sich auf die Frage: Darf die Stadt einen Betrieb schließen, den sie rund 40 Jahre lang geduldet hat? Das Bordell wurde laut Polizei 1972 eröffnet. Die Stadt geht von spätestens 1978 aus. Der Schriftsatz dazu wirft ein Schlaglicht auf den verwirrenden Umgang mit dem Thema im Rathaus. Dort wird im Fall des Leonhardsviertels hausnummerngenau unterschieden: Heers Haus hat die Adresse Weberstraße 11A. Zulässig wären Bordelle laut Stadt in den Häusern 3 bis 5 und 4 bis 10.

50 Meter weiter urteilte das Regierungspräsidium anders

Eine andere altbekannte Adresse, rund 50 Meter entfernt, wollte die Stadt schon vor Jahren schließen. Aber in diesem Fall kam das Regierungspräsidium zu einem anderen Urteil als an der Weberstraße. Das Bordell genieße Bestandsschutz, weil es vor 1985 eröffnet worden sei. Eine Schließung sei unzulässig. Im vergangenen Mai hat die Stadt ungeachtet dessen erneut angekündigt, auch diesen Betrieb zu verbieten, allerdings erst in ferner Zukunft.

Das Jahr 1985 galt bisher als entscheidend, weil der Gemeinderat 1984 die Vorschriften zum Thema änderte, die sogenannte Vergnügungsstättensatzung. Sofern „es sich um nachgewiesenen Altbestand handelt, d. h. die Vergnügungsstättensatzung noch nicht in Kraft getreten“ war, bestehe kein Grund zum Einschreiten – so argumentierte der Rechtsanwalt Roger Bohn in einem anderen Verfahren. Er vertritt die Stadt regelmäßig bei Klagen gegen Bordelle. Zuvorderst und am längsten gilt die Duldung für das weithin bekannte Dreifarbenhaus gleich neben dem Rathaus.

Die Stadt begründet ihren Sinneswandel mit einem Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg aus dem Jahr 2012. So ist es auch im Schreiben des Regierungspräsidiums zu lesen. Das Gericht hatte die Klage eines Bordellbetreibers abgewiesen, der sich gegen die Schließung seines Betriebs wehrte. Dies unter anderem mit dem Argument, er genieße Bestandsschutz. Der Betrieb war 2005 eröffnet worden. Im selben Jahr hatte der Gemeinderat Freiburg ein Konzept beschlossen, mit dem die Rotlichtbetriebe auf wenige Standorte konzentriert wurden. Zwischen Eröffnung und Ratsentscheidung lagen nur Monate.

Die Gerichte entscheiden höchst unterschiedlich

Ohnehin fallen die richterlichen Entscheidungen höchst unterschiedlich aus. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe urteilte ein Jahr später, dass ein Bordellbetreiber sich auf den Bestandsschutz und gar das Grundgesetz berufen dürfe. Eine Schließung sei rechtswidrig. Der Betrieb war 1997 eröffnet und fünf Jahre lang klaglos geduldet worden.

Sollte die Stadt Stuttgart vor Gericht obsiegen, könnte dies grundsätzliche Bedeutung haben. Über die vier Jahrzehnte währende Duldung sind etliche Gesetzesänderungen zur Prostitution hinweggegangen, zuvorderst das 2002 beschlossene Gesetz zu deren Legalisierung. Dessen Ziel sei unter anderem gewesen, „Betrieben, die bereits lange ungestört und nicht störend in Wohn- und Mischgebieten existieren, einen rechtlich gesicherten Standort zu ermöglichen“. So erklärte es jedenfalls das Bundesfamilienministerium.

Vor 1983 konnten Bordelle grundsätzlich nicht legal betrieben werden. Erst ein Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts im November des Jahres eröffnete zumindest die Möglichkeit einer Genehmigung. Zuvor hatten Städte die Betriebe entweder stillschweigend geduldet oder im Sinne einer Gesetzeslücke als Wohnheim für obdachlose Dirnen genehmigt. Dies gilt auch für das Dreifarbenhaus.

Heer scheint jedenfalls sicher, dass er seinen Betrieb nicht schließen muss. Er investiert in ihn nach eigener Aussage derzeit 650 000 Euro. Das historische Fachwerkhaus ist ausgebeint und wird in den nächsten Monaten kernsaniert.