Einst galt Stuttgart als fortschrittlich im Umgang mit der Prostitution. Inzwischen wirkt die Stadt hilflos. Aktuell streitet sie sich mit dem Besitzer des Hauses an der Leonhardstraße 16 – wieder einmal.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Das Geschäft wirkt denkwürdig. Die Stadt hat sich ein Haus an der Weberstraße gesichert – per Vorkaufsrecht. Im Erdgeschoss residiert das Finkennest, eine Kneipe. Das Haus ist baufällig und denkmalgeschützt. Weshalb die Stadt es an ihre Wohnbaugesellschaft SWSG gleichsam zwangsverkaufen will. Womöglich wird der Zwangs- zum Glückskauf. Einst schafften in den Wohnungen über der Kneipe Prostituierte an – illegal. Nun wird im Rathaus erwogen, an der Weber- und Leonhardstraße Bordelle zu erlauben. Kommt es so, dürfte der Wert des Hauses sich vervielfachen. Hingegen wird die Eigentümer gegenüber ein Wertverfall grämen. Die Bordellerlaubnis soll jeweils nur für eine Straßenseite gelten.

 

Merkwürdiger Umgang mit Sexarbeit

Das Vorhaben ist die vorerst letzte Kuriosität im Umgang mit der Prostitution. Seit 1978 ist Stuttgarts Mitte Sperrgebiet. Lediglich eine Handvoll Bordelle in ganz Stuttgart werden legal betrieben. Der Straßenstrich ist trotzdem unübersehbar, beispielhaft vor zwei angeblichen Hotels im Bohnenviertel oder an der Katharinenstraße gar gegenüber einer Grundschule. Deren Fenster zur Turnhalle sind aus nahe liegendem Grund verhängt. Was unnötig sein sollte: Wer der Prostitution in der Nähe einer Schule in einer Weise nachgeht, die Personen unter 18 Jahren sittlich gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. So steht es im Strafgesetzbuch.

Götz Wintterlin sieht von seiner Tür aus, wie das Prostitutionsverbot missachtet wird. Er betreibt eine Fotogalerie im Bohnenviertel – mit Blick auf eines jener angeblichen Hotels. „Was Stuttgart mit der Prostitution tut, versteht kein Mensch“, sagt er. Das ist nicht das Wort eines Fotografen, sondern eines Fachkundigen. Vor seinem Ruhestand war Wintterlin im Rathaus Freiburg zuständig dafür, Regelverstöße der Rotlichtbranche zu ahnden.

Einst galt Stuttgart als fortschrittlich im Umgang mit Sexarbeit. „Als Ende der Sechziger das Dreifarbenhaus eröffnet hat, war das ein bundesweiter Skandal“, sagt Wintterlin. Inzwischen gilt Stuttgart nicht nur ihm als merkwürdig im Umgang mit Sexarbeit. Gemäß Zählung aus dem Rathaus werden allein im Leonhardsviertel ein Dutzend Häuser widerrechtlich zur Prostitution genutzt. Laut den Bordellbetreibern, die legal Sex anbieten, sind es 22.

Die Rechtslage ist verwirrend

Aktuell streitet die Stadt sich mit dem Besitzer des Hauses an der Leonhardstraße 16 – wieder einmal. Nach Jahre währenden Verfahren hatte das Oberlandesgericht dort die Prostitution verboten. Das Bordell wurde geschlossen – und wieder geöffnet. Nun prozessiert die Stadt erneut. In einem Eilverfahren hat das Verwaltungsgericht Stuttgart eindeutig geurteilt: Der Betrieb muss geschlossen werden. Bis dahin kann es aber dauern. Aktuell liegt der Fall in der nächsten Instanz. Die „wird auch entscheiden, dass wir Recht haben“, sagt der Anwalt Roger Bohn, den die Stadt regelmäßig bei Rechtsstreitigkeiten mit Rotlichtbetrieben beauftragt, „aber dann kommt erst das Hauptsacheverfahren“ – sofern der Bordellbetreiber nicht freiwillig schließt. Seit im Jahr 2001 die rot-grüne Bundesregierung beschlossen hat, Prostitution zu legalisieren, ist die Rechtslage verwirrend. Allerdings haben andere Städte reagiert. Zuvorderst Köln versucht, sich der Probleme mit der Prostitution nüchtern zu entledigen – mit sogenannten Verrichtungsboxen. In den Verschlägen – Garagen ähnlich – bedienen Dirnen ihre Freier unter dem Schutz von Wachleuten. Statt wie in Stuttgart 100 bis 150 Euro täglich für ein Zimmer zahlen sie sechs Euro pro Nacht. Gewalt und Geschlechtskrankheiten seien deutlich zurückgegangen, bilanzierten die Kölner nach den ersten drei Jahren.

„Sofortvollzug schwierig, aber im Einzelfall möglich“

Köln hat sofort nach der Gesetzesänderung seine Sperrbezirksverordnung verschärft, die regelt, wo Sexbetriebe legal sind und wo nicht. München folgte 2003. Seitdem „kann man schnell eingreifen“, sagt Thorsten Vogel vom Münchener Bauamt, selbst sofortige Schließungen seien zwar nicht einfach, aber „grundsätzlich möglich, etwa bei Problemen mit dem Brandschutz“. Laut Auskunft aus dem Kölner Rathaus ist „ein Sofortvollzug schwierig, aber im Einzelfall möglich, beispielsweise, wenn eine Grundschule in der Nähe ist“.

Ähnlich sah es das Verwaltungsgericht Stuttgart, als es entschied, ein illegales Bordell zu versiegeln, sei rechtmäßig gewesen. Das Datum des Urteils gibt aber einen Hinweis, wie lange dieser Versuch in Stuttgart nicht unternommen wurde. Der Fall stammt aus dem Jahr 1979.

Der bayerische Verwaltungsgerichtshof urteilte in einem Fall in Bamberg vor knapp zwei Jahren gar, dass „ein Sofortvollzug regelmäßig gerechtfertigt“ sei. Anders wäre es laut Richterspruch nur, wenn „die Behörde den illegalen Zustand mit Wissen und Wollen über einen längeren Zeitraum geduldet hätte“.