Bundesweit wollen am Mittwoch Zehntausende von Krankenschwestern, Ärzten und Klinikmanagern aus Protest auf die Straßen gehen. Sie fürchten ein neues Reformgesetz.

Stuttgart - Für den Krankenpfleger und Gewerkschaftssekretär Jürgen Lippl ist es ein seltsames Gefühl: Seit an Seit wollen Pflegekräfte, Ärzte und ihre Arbeitgeber aus den Chefetagen der Krankenhäuser an diesem Mittwoch auf dem Schlossplatz in Stuttgart, in Berlin und anderswo zum Protest marschieren gegen ein Gesetz zur Krankenhausstruktur, das in der parlamentarischen Beratung ist und 2016 in Kraft treten soll. „Es gibt da Interessenschnittmengen“, sagt Lippl, der bei Verdi in Stuttgart für die Krankenhäuser zuständig ist. Mit einem Reformpaket will Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) die rund 2000 Kliniken in Deutschland „fit“ für die Zukunft machen: die Pflege stärken, unnötige Operationen verhindern, gute Qualität belohnen und schlechte bestrafen, die Notfallversorgung stärken. Aber schenkt man der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Ärzteverbänden und der Gewerkschaft Verdi Glauben, betreibt Gröhe „Etikettenschwindel“. Er gebe auf der einen Seite und nehme auf der anderen. Er gebe eine Finanzspritze (das Personalförderungsprogramm) – streiche aber den Versorgungszuschlag für die Kliniken.

 

Jürgen Lippl sagt, man sei sich mit der Arbeitgeberseite nicht in allen Punkten einig, in einem aber schon: „Gehälter und Gehaltserhöhungen des Klinikpersonals müssen langfristig finanziert werden, ohne dass Krankenhäuser gezwungen sind, mehr Patienten zu behandeln oder die Kosten zu steigern.“ Das leiste das neue Gesetz nicht.

Allein im Südwesten sind 1000 Stellen bedroht

Allein durch den Wegfall des Versorgungszuschlags werden laut Verdi an den 230 Kliniken in Baden-Württemberg 60 Millionen Euro fehlen, damit stünden im Südwesten 1000 Jobs von Krankenschwestern und Pflegern im Feuer. Das Personal arbeite schon „am Limit“, sagt Lippl, auch wenn die Arbeitgeber das ungern öffentlich sagten. Lippls Kollegin Christina Ernst berichtet, dass das Pflegeförderprogramm von 2009 allenfalls die gestiegenen Patientenzahlen abgefedert habe. „Seither hat die Arbeitsüberlastung zugenommen.“ Patienten bekämen zu wenig Flüssigkeit, statt aufwendiger Toilettengänge würden ihnen Bettpfanne oder Windeln gebracht, weil das Personal zu wenig Zeit habe. Ernst zitiert eine langjährige Anästhesieschwester aus der Region Stuttgart mit folgenden Worten: „Wir haben keine Zeit mehr, mal durchzuatmen. Wir versorgen hier schwerstkranke Menschen im Akkord. Fehler häufen sich.“ Sie habe ihre Arbeit stets mit Herzblut gemacht, unter diesen Bedingungen sei sie kaum noch mit ihrem Gewissen zu vereinbaren.

Bei der Krankenhausgesellschaft in Baden-Württemberg wird mit Sorge gesehen, dass die Reform durch eine Verknappung der Mittel und neue Anforderungen das Krankenhausnetz weiter ausdünnen könnte. „Dabei haben wir in Baden-Württemberg jetzt schon ein niedriges Verhältnis von Klinikbetten zur Einwohnerzahl“, sagt Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der Krankenhausgesellschaft.

Im Land kommen auf 100 000 Einwohner 535 Klinikbetten, im Bundesdurchschnitt seien es 621. Andere Länder hätten „da größere Probleme“, sagt Einwag. „Wir sehen das Gesetz kritisch. Es wird erneut eine Strukturbereinigung erzwingen, und zwar über die Geldseite.“ Das Wort Strukturbereinigung kann mit „Schließung“ übersetzt werden. Schon jetzt gibt es eine Reihe von Regionen im Südwesten, in denen über die Zusammenlegung von Krankenhäusern diskutiert wird, die Reform könnte dies beschleunigen. Diskutiert wird laut Einwag über Häuser in Öhringen und Künzelsau, Lörrach und Schopfheim, zwei Kliniken im Landkreis Waldshut sowie Biberach und Riedlingen – dessen Krankenhaus noch eine Bestandsgarantie bis 2017 hat.

Fast jede zweite Klinik schreibt rote Zahlen

Heute stecken 45 Prozent aller Kliniken im Südwesten in roten Zahlen. Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Thomas Reumann, findet drastische Worte für Gröhes Reform: „Wir haben nicht den Eindruck, dass die Verantwortlichen wissen, was in den Krankenhäusern los ist.“ Die Finanzierung der steigenden Betriebskosten sei im Konzept nicht vorgesehen. „Im Gegenteil sollen Produktivitätsentwicklungen zu Preissenkungen führen!“ Reumann wörtlich: „Maßstab sollen Krankenhäuser mit durchrationalisiertem Personaleinsatz werden. Da wird eine Spirale des Personalabbaus in Gang gesetzt.“

Fragt man Praktiker, etwa den Geschäftsführer des Stuttgarter Marienhospitals Markus Mord, ist die Finanzierung der heikelste Punkt: Man hätte vom Gesetz erwartet, dass es die steigenden Personalkosten auffange – etwa die kürzlich um 2,7 Prozent gestiegenen Ärztegehälter. Doch das sei nicht der Fall. „Wir können doch nicht unsere Fallzahlen ins Unendliche steigern, um das aufzufangen.“ Im Übrigen rechne er damit, dass er durch das Personalförderungsprogramm allenfalls drei Mitarbeiter einstellen könne. Bei 420 Vollzeitkräften sei so eine Entlastung kaum spürbar.

Eher die Provinzkrankenhäuser werden neue Qualitätsanforderungen und Mindestoperationszahlen treffen. So soll es Zuschläge bei guter Behandlungsqualität geben, Abschläge bei schlechter. Aber wie sich Behandlungsqualität und Patientenwohl messen lässt, ist umstritten. Ein wissenschaftliches Institut soll dafür Kriterien erarbeiten. Gedacht ist etwa daran, 50 Knieoperationen pro Jahr als Mindestzahl vorzuschreiben. Doch sind kleine Häuser immer schlechter? „Da kann ein multimorbider Patient die ganze Statistik verhageln“, sagt ein Insider. Möglich, dass man sich künftig vor dem Risiko bei Schwerkranken drücken wird.