Eine Bürgerinitiative fürchtet wegen der Stuttgart-21-Arbeiten Schäden – kaum jemand widerspricht.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Woher der Wind weht, ist beim ersten Blick auf die flatternde Fahne offensichtlich. Die Eins ist angefressen, weil der Luftstrom Fäden aus dem Stoff zupft. Selbst wenn sie fehlen würde und die Zwei dazu, würde jeder Stuttgarter sie doch immer noch erkennen: Es ist die K 21-Fahne der Tiefbahnhofgegner. Sie flattert auf der Dachterrasse von Frank Schweizer.

 

Schweizer ist Gegner von Stuttgart 21 der ersten Stunde. Er hat gegen das Projekt geklagt und verloren. Alles, was er in den nächsten 90 Minuten erzählen wird, hat er etliche Male erzählt. Der Unterschied zu all den Jahren des Mahnens in der Vergangenheit ist: Inzwischen hört ihm jemand zu, egal ob Nachbarn oder Politiker, von der untersten kommunalpolitischen Etage bis hinauf in den Landtag. Diesen Montag wird der Landesumweltminister Franz Untersteller Schweizer und ein paar seiner Mitstreiter empfangen. Nils Schmid, der SPD-Superminister, und der SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel werden nörgeln, dass wieder ein Grüner aus der Regierung gegen S 21 stänkert. Schweizer wird das freuen.

Zu seinen Mitstreitern gehören Michaela Klapka und Uwe Dreiss, die ebenfalls auf der Terrasse sitzen, von der aus der Blick schweift, hinunter auf den Kopfbahnhof und den gerodeten Park. Gemeinsam ist den Dreien, dass sie im Kernerviertel wohnen, am Ameisenberg, und dass sie um ihr Eigentum fürchten. Der Berg könnte ins Rutschen geraten, wenn die Bahn ihr Grundwassermanagement in Gang setzt.

Die Protestbewegung breitet sich aus

Diese Sorge treibt nicht nur die drei um. Nach zwei Stunden am Kernerplatz – gleich bei der Ballettschule und dem türkischen Konsulat – hatten sie 190 Protestunterschriften beisammen. Daraus ist eine Bürgerinitiative mit rund 100 Mitgliedern geworden, das Netzwerk Kernerviertel. Vor ein paar Tagen gründete sich ein Ableger am Killesberg. In Wangen regt sich ebenfalls Interesse, entlang der Sonnenbergstraße finden sich einzelne Widerständler zusammen – am Hang, der sich vom Olgaeck Richtung Degerloch erstreckt. Der Hang ist überall das Stichwort.

Uwe Dreiss ist Jurist und referiert über den Aberwitz subsidiärer Haftung. Dies heißt in etwa, dass die Bahn praktisch nicht zum Schadenersatz gezwungen werden kann, egal welchen Schaden Bauarbeiter in ihrem Auftrag anrichten. Schweizer erklärt gleich den ganzen Wahnsinn des gesamten Projekts. Klapka ergänzt, wer wann zu welchem Thema was gesagt hat. Ohne dies geht es nicht, geht es nie – Stuttgart-21-Gegner wollen nicht nur sagen, dass sie im Recht sind, sie wollen es immer beweisen. Passend dazu schallt just in diesen Minuten der Lärm des Schwabenstreichs von unten auf die Dachterrasse hoch.

Klapka hat die Sorge der Menschen im Kernerviertel dem Bezirksbeirat Mitte erklärt. Die SÖS-Beirätin Rita Krattenmacher formulierte dazu einen kurzen Antrag: Der Bezirksbeirat unterstütze sämtliche Forderungen der Initiative. Die Zustimmung war einstimmig, ohne nur einen einschränkenden Satz aus den Reihen von CDU oder FDP. Denn unabhängig von K oder S 21 und dafür oder dagegen: Die Sorge um den Ameisenberg halten selbst Befürworter des Tiefbahnhofs für berechtigt. Dazu gehört der Baubürgermeister Matthias Hahn. Er hat die Bahn vor einem Jahr aufgefordert, ein geotechnisches Gutachten vorzulegen, mit dem belegt werden soll, dass die Arbeiten im Untergrund des Ameisenbergs gefahrlos sind. Gleiches hat auch Umweltminister Untersteller verlangt. Nicht mehr will die Kernerviertel-Initiative.

Folgen sind schwer vorherzusehen

Der Nachweis der Gefahrlosigkeit dürfte schwierig werden. Wasser, das die Bahn am Fuß des Ameisenbergs abpumpen will, soll im Kernerviertel wieder in den Untergrund gepumpt werden. Dass die Folgen schwer vorhersehbar sind, ist gleichsam im Praxistest erwiesen. Bei einer Probebohrung 2009 im Auftrag der Bahn verschwanden 200 000 Liter Wasser im Untergrund und quollen an anderer Stelle wieder an die Oberfläche. Die Stadt stoppte die Arbeiten – wegen der Gefahr eines Hangrutsches.

Die möglichen geologischen Folgen des Wasserkreislaufs sind so vielfältig wie die Gesteinsarten im Untergrund. Dass neue Höhlen ausgespült werden, in der Folge die Oberfläche sich senkt, ist ebenso denkbar, wie dass Gesteinsschichten quellen und die Oberfläche sich hebt – mit entsprechenden Folgen für die Häuser im Kernerviertel. Die Bahn hat dazu bisher im Wesentlichen verlauten lassen, dass beides nicht geschehen werde. Wer mehr wissen wolle, möge sich an das Eisenbahnbundesamt wenden, nicht an das Unternehmen.

Unabhängig von Fragen der Geologie nährten Bahnverantwortliche bei einer Bezirksbeiratssitzung zumindest den Verdacht, nicht unbedingt ortskundig zu sein. Statt vom Ameisenberg sprachen sie vom Ameisenhügel. In anderer Sache lässt das Unternehmen akribisch arbeiten. Um ermitteln zu können, ob Schäden im Gemäuer bereits vorhanden waren oder Folgen der Bauarbeiten sind, erfassten Gutachter den Zustand der Bauten im Kernerviertel, erzählt Schweizer. „Bei mir haben die acht Stunden jede Ritze im Haus fotografiert“.