Die Istanbuler Zivilgesellschaft schöpft aus den Gezi-Protesten ihren neuen Mut. Sie will sich vom Staat nicht mehr gängeln lassen. Aber der Gouverneur von Istanbul sieht das womöglich ganz anders. Ein Besuch.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Istanbul - Die Revolution hat keine Spuren hinterlassen. Fast idyllisch liegt der Gezi-Park mitten im ewig tosenden Autoverkehr von Istanbul. Drei Banker im feinen Zwirn genießen die matte Herbstsonne auf einer Bank, plaudern, kauen an ihren mitgebrachten Brötchen. Kinder toben über die staubigen Wege, ermahnt von besorgten Müttern. Der Duft von gebratenen Esskastanien weht vom Taksim-Platz herüber. Nichts deutet mehr darauf hin, dass dieses Fleckchen Grün zwischen Beton und Asphalt im Sommer der Brennpunkt einer Revolte war, für einige Wochen zum Symbol des Kampfes für demokratische Rechte wurde. Die Bäume, die gefällt werden sollten und an denen sich die Wut gegen die Willkür der Mächtigen entzündet hatte, stehen noch. Das ist der einzige sichtbare Sieg der Demonstranten. Doch was ist sonst noch geblieben von der Protestbewegung, die schnell auf andere Städte in der Türkei übergriff und Sympathisanten in der ganzen Welt fand?

 

Immer wieder wird Tayfun Kahraman diese Frage gestellt. Der junge Mann, einer der Führer der Taksim-Solidaritätsgruppe, Aktivist und politischer Vordenker, weiß, dass es darauf keine eindeutige und wirklich befriedigende Antwort gibt. „Objektiv gesehen, im Sinne einer politischen Partei“, beginnt Tayfun Kahraman etwas zögerlich, sei tatsächlich nicht viel vom Gezi-Protest übrig geblieben. „Viele haben sogar aufgehört, sich für die Protestbewegung einzusetzen, weil sie sich vor den Konsequenzen fürchten“, wirft Erkan Saka ein. Er ist einer der türkischen Blogger, die im Sommer über Wochen dafür gesorgt haben, dass die Proteste über das Internet bekannt und auch koordiniert wurden.

Viele waren von der Bewegung einfach überwältigt

Nun haben sich Kahraman und Saka noch einmal im Büro einer Istanbuler Journalistenvereinigung getroffen und lasse jene aufregenden Tage Revue passieren. „Ich bin kein Revolutionär, ganz im Gegenteil“, beschreibt Erkan Saka sich selbst. „Aber die Bewegung war so überwältigend, da musste ich mich einfach engagieren.“

Er hatte damals Glück, ist nicht verhaftet worden, weil er nicht zu Hause übernachtet hat, sondern immer wieder bei Freunden Unterschlupf gefunden hat. Doch mit einiger Verzögerung hat Saka die Folgen seines Engagements nun zu spüren bekommen. Der junge Mann arbeitet als Dozent für Medien an der Universität in Istanbul und erzählt, dass der staatliche Rundfunksender TRT einige Fortbildungskurse nicht mehr an seinem Lehrstuhl belege. Warum, das sei nicht klar gesagt worden, der Blogger hat aber keine Zweifel, dass das als „Strafe“ gedacht ist, weil die Universität die Proteste ziemlich offen unterstützt hat. Dennoch fühlt sich Erkan Saka nicht als Verlierer. „Gezi ist ein Sieg für die Zivilgesellschaft“, sagt er trotzig, Tayfun Kahraman nickt zu diesem Satz. „Die Proteste haben den Menschen ein neues Selbstbewusstsein gegeben, es hat sich etwas gewandelt im Auftreten gegenüber dem Staat.“ Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei hätten Menschen aus allen Schichten und allen politischen Lagern gemeinsam für eine Idee gekämpft, sagt Erkan Saka. Aber auch er muss einräumen: „Das ist wenig greifbar, es ist eher eine psychologische Sache.“

Tayfun Kahraman sucht nach einem Bild, mit dem er diesen Wandel beschreiben kann. Dann sagt er, dass im Gezi-Park wohl eine Stimmung geherrscht habe wie zu Zeiten der 68er-Studentenrevolte in Frankreich. „Auch damals ist keine politische Partei direkt aus der Bewegung entstanden“, doziert er, und doch sei die Gesellschaft fundamental verändert worden.

Die „Gezi Partisi“ erwähnen beide während des Gesprächs erst ganz am Ende, so nebensächlich erscheint sie ihnen. Sie ist die einzige Partei, die sich aus der vielschichtigen Demokratiebewegung herausgeschält hat. Ihr Chef ist der bekannte türkische Rockmusiker Resit Cem Köksal. „Dort sammeln sich zu viele verschiedene politische Strömungen“, analysiert Tayfun Kahraman in knappen Worten und schätzt deswegen die Überlebenschancen der „Gezi Partisi“ nur sehr gering ein. „Das wird nicht funktionieren“, sagt der 32-Jährige und schüttelt noch einmal den Kopf. Die islamisch-konservative AKP von Premier Tayyip Erdogan dürfte die Neugründung sogar begrüßen, glaubt er, denn die ohnehin schon zersplitterte Opposition im Land verliere dadurch noch mehr Schlagkraft.

Ein Machtpolitiker will keiner werden

Doch das sind Überlegungen von Machtpolitikern. In solchen Kategorien will Tayfun Kahraman nicht denken. Immer wieder betont er, dass die Taksim-Solidaritätsgruppe keine Parteipolitik machen will. Im Sommer zeigte sich schnell, dass die Ideen der revolutionären Gezi-Bewegung und jene der Herrschenden nicht kompatibel sind. Das ahnt wohl auch Ministerpräsident Recep Taiyyp Erdogan, der die Protestierenden anfangs noch als Abschaum beschimpfte und dann nach den Unruhen doch einem Treffen mit der Taksim-Solidaritätsgruppe zustimmte. Aber der Premier habe kein Interesse an einem Dialog gehabt, sagt Kahraman. Im Gegenteil, Erdogan habe das Forum schon nach kurzer Zeit wutentbrannt verlassen, und gegen die Teilnehmer dieses Gesprächs sei danach ermittelt worden.

Avni Mutlu, Gouverneur von Istanbul, erzählt die Geschichte aus einer ganz anderen Perspektive. Besucher empfängt der Politiker standesgemäß in einem prunkvollen Palast, nur einen Steinwurf von der weltberühmten Hagia Sofia und der Blauen Moschee entfernt. Freundlich hört sich der Gouverneur die Fragen an, nickt und lächelt. Dann schickt er voraus, dass es in vielen Ländern der EU etwa um die Pressefreiheit und den Minderheitenschutz nicht gerade zum Besten bestellt sei. Will sagen: Europa soll nicht ständig nur die Türkei kritisieren. Und was die Proteste im Gezi-Park angeht, sei „Ministerpräsident Erdogan sehr daran interessiert, was diese jungen Menschen bewegt“. Die Begegnung des Premiers mit den Demonstranten verlief nach seiner Schilderung sehr gut. Erdogan habe lange mit den jungen Leuten geredet, sagt Avni Mutlu, alles sei sehr harmonisch gewesen. Er selbst habe sich ebenfalls zu den Parkbesetzern begeben und mehrere Stunden diskutiert. „Wir sind zum Dialog bereit“, sagt er. Der Provinzchef sieht offiziell keine grundlegenden Probleme. Vieles beruhe lediglich auf falschen und übertriebenen Darstellungen. Schließlich gibt der Gouverneur seinem Besuch noch ein Sprichwort mit auf dem Heimweg: Wirft man Schlamm an eine weiße Wand, fallen die Klumpen runter, doch die Dreckflecke sind weiter zu sehen. Die makellose Wand ist natürlich die Türkei, die Schlammwerfer sind die anderen, die Demonstranten aus dem Gezi-Park und vor allem ausländische Medien.

Doch die Regierung traut dem eigenen Volk nicht. In der Istiklal Caddesi, der berühmten Einkaufsstraße in Istanbul, die vom Taksim-Platz in Richtung Goldenes Horn führt, sind einen Tag nach dem Besuch beim Gouverneur Hunderte von Polizisten postiert. Dieses martialische Aufgebot soll Proteste kontrollieren. Die Anspannung ist mit Händen zu greifen. Schließlich formiert sich ein Demonstrationszug, doch die Sicherheitskräfte blockieren sofort mit Wasserwerfern die Istiklal Caddesi, drängen die Menschen in eine Seitenstraße. Junge und Alte, Männer und Frauen, Intellektuelle und Arbeiter fordern größere Freiheiten und mehr Demokratie. Das ist die Zivilgesellschaft, die aus den Gezi-Protesten ihren neuen Mut schöpft, sich vom Staat nicht mehr gängeln zu lassen – aber der Gouverneur von Istanbul sieht das womöglich ganz anders.