Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu geht rund 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul. Aus dem Spott der Regierung ist längst Unbehagen geworden. Denn mittlerweile marschieren mehr als zehntausend Menschen mit.

Ankara - Mit „Gerechtigkeit“ als seiner einzigen Parole marschiert Kemal Kilicdaroglu seit drei Wochen über die Landstraße durch Anatolien in Richtung Istanbul. Seit Ankara hat der 68-jährige Oppositionsführer fast 350 Kilometer zurückgelegt, doch die Anstrengung ist ihm kaum anzusehen, wenn er sich am Morgen im frischen weißen Hemd freundlich grüßend an die Spitze des Zuges stellt. „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“, ruft die Menge, die seit Ankara immer größer geworden ist, während Kilicdaroglu mit der Faust den Takt vorgibt. Bei vielen Türken steht der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) im Ruf, zu schwach und zögerlich zu sein, um es mit dem Volkstribun Recep Tayyip Erdogan aufnehmen zu können. Doch mit seinem „Marsch für Gerechtigkeit“ zeigt Kilicdaroglu nicht nur dem Präsidenten, dass er bei aller Sanftheit ein Mann von Willensstärke und Ausdauer ist, der sich so leicht nicht vom Weg abbringen lässt.

 

Die Hitze macht den Demonstranten zu schaffen

Mehr als 10 000 Menschen folgen dem CHP-Vorsitzenden inzwischen täglich, über mehrere Kilometer erstreckt sich der Protestzug auf der rechten Spur der Landstraße. Der lange Strom aus weißen Mützen und T-Shirts wird nur hier und da akzentuiert von türkischen Fahnen und Schildern mit der Aufschrift „adalet“ (Gerechtigkeit). Die Landschaft östlich von Istanbul ist von sattem Grün, doch steigt in diesen Julitagen die Temperatur auf bis zu 38 Grad im Schatten. Am Wegesrand liegen Maisfelder und Pappelhaine, doch auf der Straße glüht der Asphalt und unerbittlich brennt die Sonne. Schon kurz nach dem Start kleben den Demonstranten die T-Shirts am Rücken, und begierig greifen sie nach dem Wasser, das in regelmäßigen Abständen verteilt wird.

Auslöser für den Marsch war für Kilicdaroglu die Inhaftierung von Enis Berberoglu. Der CHP-Abgeordnete und frühere Journalist war am 14. Juni zu 25 Jahren Haft verurteilt worden, weil er der Zeitung „Cumhuriyet“ ein Video gegeben haben soll, das einen Konvoi des türkischen Geheimdienstes mit Waffen für islamistische Rebellen in Syrien zeigt. Es war das erste Mal, dass ein CHP-Abgeordneter inhaftiert wurde – für Kilicdaroglu ein Weckruf.

Berberoglus Festnahme war der Auslöser

Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 sind Zehntausende Menschen inhaftiert worden, darunter ein Dutzend Abgeordnete der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP). Viele HDP-Politiker fragen daher, warum Kilicdaroglu erst jetzt auf die Straße geht, da es einen seiner eigenen Abgeordneten getroffen hat. Die Festnahme von Berberoglu sei der Auslöser gewesen, sagt Kilicdaroglu während einer Pause, in der er sich in einem Wohnmobil von den Strapazen erholt. Der Marsch, der am Sonntag mit einer Großkundgebung nahe Berberoglus Gefängnis in Istanbul enden soll, sei aber „für alle Menschen, die Gerechtigkeit suchen“.