Nasenbeinbruch, Jochbeinprellung. Mit Samthandschuhen wurde ein 17 Jahre alter Jugendlicher bei einem Polizeieinsatz gewiss nicht angefasst. Ein Verfahren in Karlsruhe wirft einen Blick auf Gewalt durch Polizisten.

Karlsruhe - Es muss totales Chaos geherrscht haben. Erst wird an einer Karlsruher Straßenbahnhaltestelle randaliert. Glas splittert, Geschrei, Geschimpfe, Anwohner werden wach. Die Polizei rückt an, alsbald kommt Verstärkung. Mehrere Streifenwagen sind schließlich vor Ort, Blaulicht flackert, Schaulustige versammeln sich. Am Schluss liegen zwei Jugendliche am Boden, Hände gefesselt. Dann tritt ein Polizist zu. Einer der beiden Jugendlichen, ein 17-Jähriger, erleidet einen mehrfachen Nasenbeinbruch. Soviel ist sicher.

 

Der Rest ist im Prozess um Polizeigewalt vor dem Amtsgericht Karlsruhe vollkommen undurchsichtig. Wer hat in der Oktobernacht 2014 zugetreten? Der angeklagte 27 Jahre alte Polizeibeamte? Oder der 44 Jahre alte Kollege, der als Zeuge aussagt? Oder ein ganz anderer Polizist? Und war der Tritt kühl kalkulierte Absicht? Rassistisch motiviert, weil der Junge dunkelhäutig war? Kurzschlussreaktion eines überforderten Polizisten? „Versehen“ im Eifer des Gefechts, als ein Beamter für die Fixierung des Jugendlichen bäuchlings auf ihm drauf liegt?

Das hält jedenfalls der 44 Jahre alte Kollege des Angeklagten für möglich, wird dann auf Antrag von David Schneider-Addae-Mensah, Anwalt des heute 19-jährigen Opfers, vereidigt. Danach zeigt der Anwalt ihn wegen Meineids an. „Das war nämlich dreiste Lügerei“, sagt Schneider-Addae-Mensah. Sein Mandant ist im Prozess Nebenkläger.

Offenbar einige Zeugen nicht befragt

Merkwürdig zumindest dies, findet auch der Richter: Viele, die jetzt als Zeugen nach und nach im Prozess auftauchen, waren in der Tatnacht Anfang Oktober 2014 ganz nahe am Geschehen dran, ohne vernommen zu werden - „meine Personalien wurden nie aufgenommen“, wundert sich an einem der Prozesstage ein 19-jähriger Bekannter des Nebenklägers. „Zeugen vor Ort werden in solchen Fällen oft einfach weggeschickt“, sagt dazu Alexander Bosch von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). „Die Polizisten wissen ja, wenn ein Einsatz schiefläuft.“

Bundesweit gab es 2014 mehr als 2000 Anzeigen gegen Polizisten wegen Gewalt im Dienst, wie Bosch sagt. Mehr als 90 Prozent laufen ins Leere, meint der AI-Referent für Polizei und Rassismus. Das sei umso bezeichnender, wenn man die Zahl der Fälle dagegen halte, in denen die Polizei Anzeige gegen Zivilisten erstatte. „Dann landen 90 Prozent vor Gericht“, behauptet Bosch; bei 80 Prozent davon komme es zu einer Verurteilung.

Im Land bisher 17 Disziplinarverfahren in 2016

Das Innenministerium in Stuttgart hat solche Zahlen nicht. Für das Jahr 2016 zählte das Ministerium bisher im ersten Quartal 17 Disziplinarverfahren gegen Polizisten. Dem gegenüber stünden für das Jahr 2015 knapp 1900 verletzte Polizisten. „Die Zahlen stehen in gar keinem Verhältnis“, betont der Sprecher. Allein das zeige, dass Gewalt gegen Polizei ein ungleich größeres Problem sei, als Gewalt von der Polizei.

Mindestens zwei Augenzeugen hatten vor Gericht ausgesagt, den Tritt gesehen zu haben. Die Beschreibung, die sie von dem Beamten geben, passt auf den Angeklagten: Kahl, muskulös. Interne Ermittlungen der Polizei waren zuvor im Sande verlaufen. „Es ist sehr typisch für die Polizei: Polizisten decken das Fehlverhalten anderer Polizisten“, sagt Bosch. „Interne Ermittlungen sind selten zielführend.“

Dagegen verwahrt sich die Deutsche Polizeigewerkschaft entschieden. „Wenn polizeiliches Fehlverhalten stattfindet, wird dem sehr sorgfältig nachgegangen“, sagt Ralf Kusterer, Landesvorsitzender in Baden-Württemberg. „Es gibt überhaupt keine Anzeichen dafür, dass da etwas unter den Tisch fällt.“ Gewalt der Polizei - „das bewegt sich im Promillebereich“, sagt er.

Dem Richter am Amtsgericht nützt das alles jetzt wenig. Aussage steht gegen Aussage. Er muss im Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt ein Urteil sprechen - möglicherweise schon an diesem Freitag.