Ein Angeklagter wirft dem Staatsanwalt vor, die Menschenrechte zu verletzen. Sein Anwalt fordert vernichtete Akten ein.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Sindelfingen - Ist die Menschenrechtskonvention verletzt, schrumpft die Frage nach Schuld oder Unschuld. Einmal davon abgesehen, dass ohnehin keiner der Vorwürfe gegen ihn wahr sei, wie der Angeklagte zu Protokoll gibt. Der ebenso groß gewachsene wie hagere Mann versucht, den Saal 16 des Landgerichts Stuttgart als Bühne zu nutzen. „Meine Ehre und meine Prinzipien gebieten mir, dem hohen Gericht zu helfen, die volle Wahrheit zu ergründen“, sagt er mit Hilfe einer Dolmetscherin.

 

Der Staatsanwalt, Matthias Schweitzer, ist schon jetzt unübersehbar entnervt. Der Mann, den er des bandenmäßigen Raubes und des erpresserischen Menschenraubs beschuldigt, ist aber erst auf Seite zwei von 42 angekommen, die er im Gefängnis verfasst hat und vor Gericht zu verlesen gedenkt – auf Litauisch. Die Menschenrechtsverletzung leitet er daraus ab, dass er seiner Freiheit beraubt ist, wirft der Staatsanwaltschaft überdies vor, mit unlauteren Methoden ermittelt zu haben.

Das hohe Gericht interessiert sich mehr für ein zügiges Verfahren

Das hohe Gericht, namentlich die Vorsitzende Richterin Manuela Haußmann, interessiert sich aber mehr für eine zügige Verhandlung als für angebliche Verfehlungen der Staatsanwaltschaft. Dass Verdächtige in Untersuchungshaft ihrer Freiheit beraubt sind, gehört zum Rechtssystem, und das Verfahren ist zugelassen, lässt sie wissen. Haußmann belehrt den Angeklagten, dass Anträge schriftlich und in deutscher Sprache einzureichen sind, mahnt seine beiden Anwälte, die Prozesstaktik mit ihrem Mandanten abzusprechen und gibt dafür 45 Minuten Zeit. Helfen wird die Pause nicht. Ihr wird nur eine weitere folgen, dann eine zweieinhalbstündige.

Die Anklageschrift ist weit kürzer als die Gegenrede des Angeklagten. Laut ihr hat der 50-Jährige mit wechselnden Komplizen drei Raubüberfälle begangen. Der spektakulärste war der auf die damalige Daimler-Chrysler-Niederlassung in Holzgerlingen. Der Unternehmensname gibt einen Hinweis darauf, wie weit die Taten zurückliegen. Die Automobilkonzerne hatten sich 1998 zusammengeschlossen und 2007 wieder getrennt. Die Raubüberfälle sind 2002 und 2003 begangen worden.

Eine mit Pistolen bewaffnete Bande überfiel das Autohaus im September 2002. Die Männer schlugen einen Wachmann nieder und drohten mit einer Bombenattrappe. Es war der Tag der jährlichen Gebrauchtwagenbörse. Entsprechend viel Geld ruhte in der Kasse. Die Männer teilten ihre Beute von 365 000 Euro nach Erkenntnis der Polizei bei einem Treffen in Frankfurt untereinander auf. Der Angeklagte soll derjenige von ihnen gewesen sein, den seine Komplizen Gera nannten. Ein anderer, Spitzname Pascha, ist bis heute nicht gefasst.

Ein Gebrauchtwagenhändler kam mit 30 000 Euro in bar

Das nächste Opfer war ein gutgläubiger Gebrauchtwagenhändler. In der Hoffnung, ein Schnäppchen zu machen, brachte er 30 000 Euro zum angeblichen Besichtigungstermin mit. Zwei Männer stiegen in sein Auto, einer hielt ihm eine Pistole an den Kopf. Neben den 30 000 Euro nahmen sie ihm Geldbörse und Handy ab. Zum Abschied sprühten sie ihm Pfefferspray ins Gesicht. Schließlich will der Staatsanwalt beweisen, dass der Angeklagte an einem Überfall auf eine Frau in Sindelfingen beteiligt war. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, wurde sie niedergestoßen, gefesselt und mit vorgehaltener Waffe gezwungen preiszugeben, wo in der Wohnung sich Wertsachen verbergen. Die Bande entkam mit 7000 Euro und 50 000 Euro teurem Schmuck.

Im Gerichtssaal folgt das nächste Geplänkel. Moritz Schmitt, einer der Verteidiger, hat sich beschwert: Das Gericht habe ihm Akten von Verfahren gegen mutmaßliche Komplizen seines Mandanten vorenthalten. Er fordert volle Einsicht und eine Vertagung um vier Wochen. Diesen Vorwurf „halte ich für gefährlich“, sagt Haußmann. Sie habe alles getan, um sämtliche Akten zu beschaffen. Zumindest teilweise dürfte dies aber unmöglich sein. Die Ermittler waren in den anderen Fällen schneller erfolgreich. Einige der Männer wurden in Osnabrück verhaftet. Die Auskunft von dort lautet: Die Akten sind inzwischen vernichtet.