Viele Teenager in China wissen nicht, wo die kleinen Kinder herkommen. Der Grund: eine rigide Sexualmoral erlaubt es bis heute nicht, dass Schüler und Schülerinnen ordentlich aufgeklärt werden. Das kann schlimme Folgen haben.

Korrespondenten: Inna Hartwich

Peking - Eine Mittelschule im Pekinger Stadtteil Shunyi. Ein riesiger Zaun umrundet das rote Gebäude. 3000 Schüler kommen hierher zum Appell und später, aufgestellt in Reihen, zum Gymnastikunterricht in Massen. Die Achtklässer haben gerade Kunst. „Will jemand etwas zur Sexualaufklärung erzählen?“, fragt die Lehrerin. Der Biolehrer hat sich zu dem Zeitpunkt längst verdrückt, über Aufklärung zu sprechen hält er für überflüssig. „Wir Chinesen brauchen das nicht“, sagt er.

 

Die Schüler aber scheinen danach zu gieren. Innerhalb von Sekunden schnellen Dutzende von Händen nach oben. „Wir Chinesen sind so was von unaufgeklärt“, sagt der 15-jährige Song Huo. Von Bienchen und Blümchen hat hier niemand gehört, hier werden Kinder meist von der Müllkippe geholt oder am Flussufer aufgelesen. So geht die chinesische Storchenlegende. Eine Geschichte, die so mancher noch glaubt, wenn er schon 16 ist.

Eltern und Lehrer bekommen rote Ohren

Doch mit Kindern über Sex reden, über Verhütung oder Aids? Niemals, sagen chinesische Eltern oft. Zu peinlich. Sie überlassen es den Schulen, wo es auf die Lehrer ankommt, wie sie es mit der Sexualerziehung halten. Viele winken ab – zu peinlich, sagen auch sie. Ohnehin ist der Aufklärungsunterricht nur ein Wahlfach in chinesischen Schulen und damit nicht Teil wichtiger Prüfungen. Das Resultat: Mädchen, die mit 16 Jahren bereits drei Abtreibungen hinter sich haben. Oder Jungs, die auch noch mit 15 bei jedem Filmkuss mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer rennen und überzeugt davon sind, dass es dicke Frauen auf der Welt gebe, die nur abnehmen müssten, schon hätten sie ihr Baby.

In China ist Sex ein Tabuthema, bis heute. China ist aber auch ein Land, in dem die Realität verklemmte Traditionen längst überholt hat. Händchenhaltende Paare auf den Straßen, Minderjährige, die einen Freund oder eine Freundin haben, ohne dass die Eltern viel hineinreden, sind Alltag. Die Mütter und Väter lassen ihre Kinder gewähren, stillschweigend.

„Wie wird man überhaupt schwanger?“

„Meine Mutter hat mir eingebläut, nicht schwanger zu werden. Aber wie wird man überhaupt schwanger?“ Zhang Yaoyang ist 16, ihr Freund 17. Sie hielten Händchen, küssten sich auch manchmal, erzählt sie freudig. „Ihn nackt sehen? Nein, wie peinlich!“, sagt Zhang, tippelt hin und wieder nervös mit dem Fuß, schaut zu ihrer 15-jährigen Freundin Tang Fanyi und stellt fest: „Du weißt auch kaum etwas.“ Die Mädchen reden nicht mit ihren Eltern, sie reden auch nicht untereinander über Jungs, über Verhütung, über Sex. „Ich bin noch zu klein“, sagt Zhang und wiederholt genau das, was ihre Mutter über die Jahre hinweg gepredigt hat. „Du weißt, du bist noch zu klein“, sagte sie, als Zhang zum ersten Mal ohne Begleitung das Haus verließ. Sie sagte es ihr auch, als Zhang mit 13 im Supermarkt Kondome entdeckte und nichts mit der Aufschrift darauf anzufangen wusste: „Gefahrvermeidungshülle“, stand da. Welche Gefahren? Wann sollte man sie vermeiden? „Das ist nichts für dich“, sagte die Mutter, „Wenn du 18 bist, darfst du das wissen.“

Abtreibung als Verhütungsmethode

Dass Zhang bis dahin ihre ersten sexuellen Kontakte haben könnte, daran denkt die Mutter nicht. Und wenn schon? „Wenn etwas passiert, gibt es doch Abtreibungen – eine sichere, saubere, schmerzlose Sache“, sagt Zhangs Freundin Tang. Mit diesen Slogans wird in den Oberstufen der Schulen und auf den Toiletten der Universitäten quer durchs Land geworben. Viele junge Frauen sehen darin eine Art Verhütungsmethode, vor allem nach den Schulferien werden die Schlangen vor den Abtreibungskliniken immer länger. In einigen Krankenhäusern kostet eine Abtreibung nicht einmal umgerechnet 30 Euro. „Das ist doch völlig normal, man geht einfach zum Arzt, der weiß, was zu tun ist“, erzählt der Achtklässler Xu Ke. Eine Freundin habe erst vor Kurzem abgetrieben, sie ist ein Jahr jünger als Xu. „Mein Kumpel hat davon erzählt, die beiden waren zusammen, jetzt sind sie getrennt. Sie hatte nach der Abtreibung starke Schmerzen, wollte ihn nicht mehr sehen.“ Im Internet, in den Pornofilmchen, die er mit seinen Freunden austauscht, würden die Frauen nie schwanger, meint er. „Keine Ahnung, wie das geht. In unseren Büchern steht das nicht.“

Eltern denken: Wissen schafft nur Probleme

Die Bücher: in Xus Klasse haben sie zwei davon, ein kleines grünes und ein großes grünes. „Gesundheits- und Sportbuch“ steht darauf, „ein Zusatzbuch für den Biologieunterricht“. Das große Thema ist die Pubertät, in vier Blöcken zusammengefasst: „1. Dein Körper verändert sich. 2. Du findest das andere Geschlecht anziehend. 3. Ihr verliebt euch. 4. Ihr habt Sex.“ Bilder gibt es kaum im Buch, und wenn, dann sind es Comics. Ein Kapitel beschreibt, was Mädchen essen sollten, wenn sie ihre Periode haben. Ein anderes, was es bedeutet, wenn Jungs plötzlich in einem feuchten Bett aufwachen.

„Kinder haben immer viele Fragen. Die Eltern aber denken bei uns oft, je weniger die Kinder wissen, desto besser für sie. Denn Wissen schafft nur Probleme.“ Zhen Hongli kämpft seit Jahren gegen solche Ansichten. Die Sexologin arbeitet in ihrer Freizeit für eine Stiftung, die sich für bessere Sexualerziehung an den Schulen einsetzt. Zhen sitzt in ihrem Behandlungszimmer am Wuzhong-Frauen- und Kinderkrankenhaus im Osten Pekings, eine Privatklinik, in der junge Frauen in rosa Hauben die Patienten zu den Ärzten geleiten und man den Laborantinnen bei ihrer Arbeit hinter Glas zuschauen kann. Zhen bezeichnet sich wahlweise als „besonderes“ oder „unnormales Kind“, wenn sie an ihre eigene Aufklärung denkt. Mit elf Jahren habe ihr der Vater ein ausländisches Aufklärungsbuch geschenkt und sei mit ihr die Bilder und all die Fragen, die sie damals hatte, durchgegangen. „Eine Ausnahmeerscheinung in China, bis heute.“ Dagegen will die Gynäkologin mit ihren Kollegen einiges tun, denn jeden Tag erlebe sie Paare, die eine „Riesenangst vor ihrer Sexualität“ hätten. In den Schulen – wenn der Lehrer das Thema überhaupt behandle – lernten die Schüler lediglich „das Technische“, dass Männer und Frauen anders aussehen, dass Frauen ihre Periode haben, dass Kinder neun Monate im Bauch sind. Das begrenzte Wissen schaffe Angst, oft auch Schmerzen. „Kaum einer, der bei mir auf dem Sofa sitzt, empfindet Sex als Genuss. Für diese Patienten ist ihr Sexleben mit Scham und Schuld verbunden.“

Früher unter Mao galt Lust als Laster

Es dürfte ein Überbleibsel der Partei-Ideologie sein, die jahrzehntelang eine körperfeindliche Erziehung propagierte. Denn die Sinneslust vertrug sich nur schlecht mit dem sozialistischen Aufbau des Landes. Sex diente lediglich zur Bereitstellung des Nachwuchses, Lust galt als Laster. In der Kulturrevolution wurden sexuelle Beziehungen, die nicht allein der Fortpflanzung dienten, mit Rechtsextremismus gleichgesetzt. Mit der Öffnungspolitik von Deng Xiaoping kam es langsam zu so etwas wie einer sexuellen Befreiung im Kleinen. Die Funktionäre erklärten Sex zum Thema Nummer eins, allerdings als rigide Vorgabe staatlicher Geburtenpolitik. Bücher über Sex und Erotik wurden verkauft, Videos vertrieben, staatliche Radiosender berieten bei Sexualproblemen. 1982 erschien schließlich das erste Sexualerziehungsbuch für Schulen: „Pubertätserziehung“, hieß es euphemistisch.

„Ich will viel fragen, aber wen?“

Seit 2008 sieht die Regierung eine „große Notwendigkeit“ im Aufklärungsunterricht an den Schulen. „Auf dem Papier sieht alles schön aus. Die meisten Lehrer aber übergehen das Thema weiterhin sehr gekonnt“, sagt die Ärztin Zhen. Davon erzählen auch die Schüler in Shunyi. „Die Lehrer laufen rot an, überblättern die Seiten und machen weiter mit irgendwelchen Pflanzen“, sagt der 15-jährige Song Huo. Seine Methode, mehr über den menschlichen Körper zu erfahren: einen Freund das Buch einer Lehrerin stehlen lassen. „,Sex’ stand drauf, spannend. Noch spannender waren die Bilder, man sah tatsächlich Frauen und Männer nackt.“ Die beiden Freunde hatten sich unter einer Treppe versteckt und die Seiten studiert, doch nicht auf alles eine Antwort gefunden. „Ich will so viel fragen“, sagt Song Huo. „Aber wen?“