Noch immer werden psychisch erkrankte Patienten in feste Kategorien eingeteilt. Doch das geht oft an der komplexen Wirklichkeit vorbei.  

Stuttgart - Stellt ein Psychiater heute eine Diagnose, trifft er seine Entscheidung natürlich nicht einfach aus dem Bauch heraus. Er orientiert sich an speziellen Diagnosehandbüchern, die mit detaillierten Symptomlisten präzise Einordnungen ermöglichen sollen. Doch was in der Theorie gut klingt, klappt in der Praxis nicht immer. So treffen die Kriterien der Diagnosehandbücher ICD-10 und DSM-4 (siehe Seite 3) auf viele Patienten nur bedingt zu. Andere Betroffene passen hingegen gleich in mehrere Diagnoseschubladen.

 

Trotz dieses Wissens klammert sich die Psychiatrie seit Ende des 19. Jahrhunderts an klar abgrenzbare Krankheitseinheiten. Das könnte sich nun ändern. Angesichts der Vorbereitungen für eine Neuauflage der beiden psychiatrischen Handbücher läuft die Debatte um feste Kategorien wie "Depression" oder "Schizophrenie" derzeit auf Hochtouren. In der Fachzeitschrift "Der Nervenarzt" beschäftigten sich Forscher um Markus Jäger kürzlich mit dem Problem, einzelne psychische Störungen eindeutig voneinander abzugrenzen.

"Es kommt häufig vor, dass Patienten beispielsweise sowohl Symptome einer Schizophrenie als auch einer Depression zeigen", so der Psychiater von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm. Depressive Symptome können bei einer Depression, aber auch bei Schizophrenie auftreten. Dies betrifft vor allem die frühen Krankheitsstadien. Beide Erkrankungen entwickeln sich erst im weiteren Verlauf auseinander, wenn bei Schizophreniepatienten zum ersten Mal typische Symptome einer Psychose wie Wahnvorstellungen auftreten. Das zeigen Langzeituntersuchungen eines Teams um den Psychiater Heinz Häfner vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Da sich die depressiven Symptome in diesen Studien zuerst bemerkbar machten, waren sie vermutlich auch keine Folge der belastenden Psychosen. Gemeinsame Symptome teilt die Depression übrigens auch mit Angsterkrankungen.

"Es gibt gemeinsame genetische Risikofaktoren"

Wenig überraschend fand man denn auch in den letzten Jahren biologische Grundlagen, die vermeintlich getrennte psychische Störungen miteinander verbinden. "Schizophrenie und Depression haben gemeinsame genetische Risikofaktoren", sagt Markus Jäger. "Familienstudien zeigen, dass unter den Angehörigen eines Patienten mit diagnostizierter Schizophrenie je nach Verwandtschaftsgrad nicht nur gehäuft ebenfalls Fälle von Schizophrenie auftreten, sondern auch Fälle von Depression." Klare Einteilungen wie schizophren oder depressiv seien offensichtlich künstlich und entsprächen nicht unbedingt der Realität. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Übergänge zwischen Normal- und Kranksein fließend zu sein scheinen. So berichteten in vielen Untersuchungen auch solche Menschen von Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, die keineswegs im klinischen Sinne an einer Psychose litten.

Den verschwommenen Grenzen psychischer Störungen könnten die Neufassungen der Diagnosehandbücher DSM-4 und ICD-10 stärker gerecht werden. Zwar wird es weiterhin Labels wie "Depression" geben. Doch in Zukunft könnte es Bestandteil einer Diagnose sein, den Patienten zusätzlich auf mehreren Dimensionen wie etwa Angst, Antriebsstörung oder depressive Symptome einzuschätzen.

"Ein Psychiater würde dann zunächst nach den bisher üblichen Kriterien zum Beispiel eine Schizophrenie diagnostizieren", erläutert Heinz Häfner. "Anschließend schaut er sich zusätzlich die individuellen Symptommuster an und beurteilt auf einer Skala, wie stark etwa die vorhandene depressive Symptomdimension ausgeprägt ist." Auf dieser Basis könne der Arzt dann entscheiden, nicht nur Neuroleptika zu verschreiben, die sich bei der Behandlung der psychotischen Dimension als sehr wirksam erwiesen haben. "Er wird dann auch eine antidepressive Therapie erwägen - in Form von Medikamenten oder einer Psychotherapie, je nach dem Schweregrad der Symptome und den individuellen Voraussetzungen."

Gezieltere Therapien für Untergruppen

Häfner selbst befürwortet solche dimensionalen Ansätze. Mit Hilfe von Dimensionen, davon ist er überzeugt, lasse sich die individuelle Ausprägung der Erkrankung genauer bestimmen. "Wenn ich diese Dimensionen bei der Diagnose miterfasse, erhalte ich eine wirklichkeitsnähere Darstellung des Krankheitsgeschehens und einen spezifischeren Ansatz für die Behandlung." Ein anderer Weg, der Mannigfaltigkeit psychischer Erkrankungen zu begegnen, könnte darin bestehen, psychische Störungen in homogene Untergruppen einzuteilen. So gibt es zum Beispiel Schizophreniepatienten, die vorwiegend unter Symptomen wie Halluzinationen oder Wahnvorstellungen leiden. Andere kämpfen dagegen eher mit Antriebslosigkeit. Solche Untergruppen zu bilden, wäre zwar wieder Schubladendenken, könnte aber gezieltere Therapien ermöglichen.

"Eine chronische Schizophrenie von einer zu unterscheiden, die vollständig ausheilen kann, kann mir bei der Therapieentscheidung helfen", erläutert Markus Jäger den Vorteil von Untergruppen und ergänzt: "Heilt sie aller Wahrscheinlichkeit wieder vollständig aus, setze ich nicht nur die Medikation niedriger an. Ich rate dem Betroffenen auch, seine Arbeit bald wieder aufzunehmen, was bei chronischen Fällen hingegen nicht sinnvoll ist." Zwar gebe es solche Ansätze schon heute, sie seien allerdings nicht sehr konsequent ausgeprägt.

Wie weit sich die Psychiatrie in Zukunft vom allzu starren "Schubladendenken" entfernen wird, lässt sich bisher noch nicht sagen. Die Neufassung des Diagnosehandbuchs DSM-4 ist zwar erst für das Jahr 2013 angekündigt, wird aber schon heute mit Spannung erwartet. 

Die Diagnose psychischer Krankheiten

Handbücher Grundlage für eine psychiatrische Diagnose sind die Handbücher „International Classification of Diseases“ (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation und das „Diagnostical and Statistical Manual“ (DSM-4) der Amerikanisch-Psychiatrischen Gesellschaft. DSM-4 unterscheidet psychische Störungen anhand von Symptomen. Schizophrenie und affektive Störungen wie Depression sind hier klar voneinander abgegrenzt.

Neuauflage Derzeit arbeiten Experten auf der ganzen Welt an der fünften Auflage des DSM-4. Die neue Version soll mehr Gewicht auf sogenannte Dimensionen legen.

Dimensionen Im Falle der Schizophrenie werden zum Beispiel neun Dimensionen vorgeschlagen. Dazu zählen unter anderem Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Antriebslosigkeit. Auf einer Skala soll eingeschätzt werden, ob beispielsweise Halluzinationen auftreten und wie stark sie ausgeprägt sind.