Eine schreiende Frau hat ein Wohngebiet in Hedelfingen seit Anfang Juli in Atem gehalten. Wegen ihrer gellenden Schreie – tagsüber und nachts – haben Nachbarn regelmäßig die Polizei gerufen. Nun konnte der für sie zuständige Träger die Kranke überzeugen, in eine Klinik zu gehen.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Das laute Schreien ist selbst durch den Telefonhörer hindurch gut zu vernehmen. „Das geht jeden Tag und jede Nacht so“, sagt Jahn Anders Horst-Kaiser am Dienstagvormittag am Apparat. „Wir wissen nicht mehr weiter.“ Seit Anfang Juli hält eine Frau aus seiner Nachbarschaft in der Amstetter Straße in Hedelfingen die Umgebung in Atem. „Sie schreit immer wieder um Hilfe und klagt über starke Schmerzen“, berichtet der Familienvater. Andere Nachbarn, die noch näher dran sind an dem Wohnangebot für wohnungslose Frauen, in dem die Kranke lebt, hätten schon mehrfach die Polizei und Rettungsdienste gerufen. Auch seine beiden drei und fünf Jahre alten Kinder fragten, warum die Frau denn so schreie – und vor allem: warum ihr niemand helfe. „Hier wohnen viele Kinder, wie will man denen das vermitteln“, meint der Architekt.

 

Ein Polizeisprecher bestätigt die häufigen Einsätze wegen der schreienden Frau. Das Problem sei nicht neu. Seit Jahren gehe das so, nur an unterschiedlichen Orten. „Sie wird immer wieder verlegt, und dann geht das von vorne los“, berichtet er. „Der Polizei sind da die Hände gebunden“, sagt der Sprecher, so unbefriedigend das für die betroffenen Bewohner sein möge. Die Polizeibeamten würden ihre Berichte jedes Mal ans Amt für öffentliche Ordnung schicken. Das Amt kann beim Richter die Zwangseinweisung einer Person in eine Klinik beantragen.

Letzteres passiert aber selten. Voraussetzung: es muss nach dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung aufgrund einer psychischen Erkrankung vorliegen. Das sei beim Schreien nicht der Fall, so der zuständige stellvertretende Sachgebietsleiter im Amt für öffentliche Ordnung, Stefan Kinkelin. Beim Schreien alleine handele es sich um eine Störung. „Eine Störung begründet niemals eine Einweisung“, erklärt er.

Nachbarn müssen es unter Umständen aushalten

Müssen Nachbarn es also aushalten, wenn zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand in ihrem Wohngebiet laut schreit? „Unter Umständen ja“, sagt Kinkelin. Seine Statistik zeigt, dass solche Fälle wie in Hedelfingen regelmäßig vorkommen. Pro Jahr erreichen das Amt für öffentliche Ordnung rund 3000 Meldungen von der Polizei, von Nachbarn und Angehörigen. Danach wird geprüft, ob eine Einweisung in eine Klinik notwendig und gesetzlich möglich ist. Neben psychischen Erkrankungen können Auffälligkeiten wegen Alkoholismus oder Drogensucht dazu führen, dass Nachbarn auf Handlungen dringen. Ihre Erfolgsaussichten sind aber eher gering.

Das Ordnungsamt veranlasst laut Stefan Kinkelin rund 50 Einweisungen pro Jahr, hinzu kommen die Einweisungen seitens der Polizei nachts und an Wochenenden. „Das ist eine freiheitsentziehende Maßnahme“, betont Kinkelin. Die Zeit in der Klinik beruhige die Lage möglicherweise nur kurzfristig. Die Patienten müssten entlassen werden, sobald sie keine akute Gefahr mehr darstellen. Zusätzliche Hilfen könnten aber von dem gesetzlichen Betreuer der Betroffenen beim zuständigen Amtsgericht beantragt werden. Doch solche Hilfen müssten von der betroffenen Person angenommen werden. Auch eine Zwangsunterbringung kann ein Betreuer bei Gericht beantragen, wenn er damit das Wohl seines Klienten erfüllt sieht.

Frau ist inzwischen in einer Klinik

Der Anwohner aus Hedelfingen sieht nicht nur den Betreuer, sondern auch den Träger des Wohnangebots in der Verantwortung, er habe „eine Fürsorgepflicht“. In diesem Fall ist der Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) zuständig – und der ist tätig geworden. „Schnelle Aktionen sind oft nicht möglich“, bittet Angela Riße, die Geschäftsführerin des SKF, um Verständnis. Man könne psychisch Kranke nicht zwangseinweisen lassen, sie hätten auch ein Recht, in ihrer Wohnung zu verbleiben. Sie berichtet, dass am Dienstagnachmittag eine Krisensitzung stattgefunden hat wegen des akuten Zustands der Frau, die Anfang Juli eingezogen sei. Die damalige Einschätzung der Sozialarbeiterin sei gewesen, dass es für die Frau möglich sei, dort zu wohnen. Dieser Ansicht ist man beim SKF inzwischen aber nicht mehr.

Es sei gelungen, die Bewohnerin zu überzeugen, dass sie weitergehende Hilfe benötigt, berichtet die Geschäftsführerin. Noch am Dienstag sei sie in eine Klinik gekommen, ein freiwilliger Schritt. „Eine Krankheitseinsicht muss vorliegen“, so Riße. Der SKF sei dabei, für die Zukunft eine „adäquate Hilfe“ sicherzustellen, damit die Frau wieder „wohnfähig“ werde.

Projekt für Wohnungslose

Das Wohnangebot für wohnungslose Frauen ist im Juni 2015 eröffnet worden – Hintergrund ist der Mangel an Wohnraum für die Zielgruppe gewesen. Vier barrierefreie Appartements sind auf einer rund 200 Quadratmeter großen Etage untergebracht. Die Bewohnerinnen teilen sich eine Gemeinschaftsküche und eine großzügige Terrasse. Sie werden vom Sozialdienst katholischer Frauen betreut. Zuvor war auf der Etage eine Bettenstation der Augenklinik der St. Anna-Klinik untergebracht, die jedoch seit mehr als einem Jahr leer stand. In dem Projekt will man die Frauen befähigen, ihren Alltag wieder meistern zu lernen.