In anderen Ländern wird Pferdefleisch gegessen, aber in Deutschland schrecken viele vor dem Gedanken zurück. Die Psychologie kann erklären, woran das liegt – und warum der Ekel vor Pferdefleisch anders funktioniert als der vor Maden oder Schimmel.

Stuttgart - Die Funde von Pferdefleisch in Fertiggerichten werden als Ekelfunde wahrgenommen, Zusammenkünfte von Verbraucherschützern als Ekelgipfel tituliert. Die Aufregung ist groß – und folgt man Winfried Menninghaus, dem Autor einer Kulturgeschichte des Ekels, ist das kein Wunder: „Im Ekel scheint nie weniger als alles auf dem Spiel zu stehen. Er ist ein Alarm- und Ausnahmezustand, ein Krampf und Kampf.“ Warum aber ruft Pferdefleisch diese starke Reaktion hervor?

 

Am Anfang des Ekels war das Fleisch, vermutet der Kognitionswissenschaftler und Ekelexperte Jason Clark von der Universität Osnabrück. Weil der menschliche Magen verdorbenes Fleisch vergleichsweise schlecht vertrage, hätten unsere evolutionären Vorfahren mit der Zeit das Ekelgefühl entwickelt. Dieses ist also eine Art Alarmanlage, die vor unverträglicher Kost bewahrt.

Nun ist Pferdefleisch kein Gammelfleisch, sondern im Prinzip gesund – und trotzdem finden es viele in Deutschland ekelhaft. Verständlich wird das erst, wenn man berücksichtigt, dass sich das Ekelgefühl über die Jahrtausende ausgeweitet hat. Der Entwicklungspsychologe Paul Rozin, Pionier der Ekelforschung, unterscheidet nunmehr fünf Auslöser. Die Basis bilden unangenehme Gerüche. Studien haben gezeigt, dass schon Neugeborene ihre Gesichtszüge auf typische Weise verziehen, wenn man ihnen verfaulte Eier hinhält. Sie kneifen die Augen zusammen, rümpfen die Nase und ziehen ihre Mundwinkel herunter – offenbar ein angeborener Emotionsausdruck und einer, der unmittelbar schützt, weil er die Wahrnehmungskanäle versperrt.

Am Anfang stand die Abwehr von Giften und Erregern

Den Kern des Ekelempfindens bildet Rozin zufolge der Anblick von Eiter, Schimmel und Blut – also Dingen, die eine Ansteckungsgefahr oder Krankheit signalisieren. Weitere Ekelauslöser seien Perversionen und körperliche Gewalt   sowie im Alltag angebissene Brötchen und warme Sitze in Wartezimmern. Eine letzte Stufe bildet Rozins Klassifikation nach der moralische Ekel, hervorgerufen von obszönen Regelverstößen.

Der Ekel vor Pferdefleisch könnte mit Letzterem zusammenhängen. In den vergangenen Tagen war immer wieder von einem „Ernährungstabu“ die Rede. Weil Pferde „dem Menschen sehr nahe stehen – in manchen Fällen vielleicht sogar geradezu Teil der Familie“ seien, werde ihr Verzehr tabuisiert, sagte etwa die Soziologin Eva Barlösius von der Universität Hannover der Nachrichtenagentur AFP. Beim Ekel vor Pferdefleisch handelt es sich demnach vorrangig um einen moralischen Impuls: Man darf kein tierisches Familienmitglied verzehren; das wäre ein obszöner Regelverstoß, fast schon Kannibalismus. Auch dass nicht jeder Pferdefleisch eklig findet, erklärt sich auf diese Weise; denn nicht jeder hat eine persönliche Beziehung zu Pferden.

Eine Voraussetzung dafür, dass sich das Ekelgefühl im Laufe der Jahrtausende auf immer mehr Dinge erstrecken konnte, ist seine kulturelle Gestaltbarkeit. Am anschaulichsten wird diese Variabilität in den regionalen Eigenarten des Speiseplans. Beim Anblick von Blauschimmelkäse dreht sich vielen Asiaten der Magen um, beim Anblick gerösteter Maden der vieler Europäer. Auch diese Gestaltbarkeit ist ein Faktor, warum gerade in Deutschland Pferdefleisch als ekelhaft empfunden wird. Denn anders als in Italien ist der Verzehr hierzulande eher unüblich.

Der Siegeszug des Ekelgefühls

Die Prägung der Emotion kann auch unterbleiben. Häufig wird betont, dass verwahrloste Kinder fast gar keinen Ekel empfinden. Und die Prägung braucht ihre Zeit: Es gilt als sicher, dass erst Dreijährige Kot- und Schweißgeruch als ekelhaft empfinden. Noch später im Leben bildet sich offenbar die Fähigkeit aus, in Gesichtern den dazugehörigen Emotionsausdruck richtig zu deuten. Einer 2010 vorgestellten Studie zufolge können dies erst Fünfjährige; zuvor halten sie die Ekel-Mimik für Wut, hat ein Bostoner Forscherteam herausgefunden. Dafür hatten sie 600 Kleinkindern sechs unterschiedliche Gefühlsbilder gezeigt.

Praktisch wird die Ausbreitung des Ekelempfindens mit dessen eigenwilliger Logik erklärt. Als besonders wirkungsmächtig gilt in der Emotionspsychologie das Prinzip der Kontamination. Schimmelt etwas, ist gefühlsmäßig unmittelbar alles in der Nähe befallen – ganz unabhängig davon, ob das überhaupt zutreffen kann. Aus einem ähnlichen Grund gelten Insekten und Kriechtiere als eklig; sie scheinen nämlich überall dort aufzutauchen, wo etwas verwest oder gammelt.

Auch Ähnlichkeit kann Dinge eklig werden lassen. In einer Studie weigerten sich Probanden, Apfelsaft aus völlig sterilen Urinbechern zu trinken. Obwohl sie wussten, dass ihnen Saft ausgehändigt wurde, ekelte sie der Anblick der gelben Flüssigkeit. Zudem neigt man zu grundlosen Verallgemeinerungen – wenn zum Beispiel eine Käsescheibe ranzig schmeckt, wird in der Folge nicht selten die ganze Käsesorte gemieden. Ein ähnliches Schicksal, nur aus moralischen Gründen, könnte Fertiglasagne blühen. Momentan verzichten nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov ein Drittel der Verbraucher gleich auf alle Fertiggerichte aus Rind.

Das Ekelgefühl klammert sich sogar an Fehlschlüsse, etwa beim „Sauce-béarnaise-Syndrom“, das auf den Psychologen Martin Selgman zurückgeht. Dieser musste sich, nachdem er ein Sauce-béarnaise-Gericht gegessen hatte, aufgrund eines Infekts übergeben. Obwohl die Soße damit nichts zu tun hatte, findet er sie seitdem eklig. Eine zufällige Begebenheit hat sein Ekelempfinden konditioniert. Allerdings handelt es sich dabei womöglich um einen Einzelfall. Denn eine experimentelle Bestätigung des Effekts erwies sich als schwierig.

Der Siegeszug des Ekelgefühls ist nicht unbedingt zweckdienlich. Das fettarme und eisenreiche Pferdefleisch ist gesund, auch proteinreiche Maden sind nahrhaft (siehe 2. Seite) – kein Wunder, dass es eine lange Tradition der Ekelkritik gibt. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Ihm zufolge verzichten Menschen nicht nur auf eine Fülle von Genussmöglichkeiten, wenn sie Ekelschranken errichten. Im apokalyptischen Ton beschwor er eine „Gefahr des Erlöschens des Menschengeschlechts“. Er vermutete, was eine Studie aus den Niederlanden unlängst bestätigte: Ekelgefühle und sexuelle Lust schließen einander aus.

Empfehlungen für die Ernährung der Zukunft

Insekten
In Asien, Afrika und Südamerika essen mehr als zwei Milliarden Menschen regelmäßig Insekten. Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft versucht die Europäer zu überzeugen, diesem Beispiel zu folgen. Massentierhaltung macht den Sechsbeinern vergleichsweise wenig aus. Ihre Aufzucht sei effizient. Im Vergleich zu Rindern und Schweinen benötigen Insekten wenig Futter. Für ein Kilogramm Fleisch reichen knapp zwei Kilogramm Nahrungsmittel, bei Vieh sind es etwa 13 Kilogramm. Dabei haben Heuschrecke und Rinderfleisch den gleichen Eiweißgehalt.

Alternativen
Food Designer versuchen die Ekelschranke einzureißen. Julene Aguirre-Bielschowsky, die an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch-Gmünd studierte, hat appetitlich aussehende Raupen-Kroketten kreiert.