Durch das Hormon Oxytocin können Mütter eine Beziehung zu ihren Babys aufbauen. Es könnt auch gegen soziale Ängste helfen.

Stuttgart - Am Anfang stand die Sexsucht der nordamerikanischen Bergwühlmaus. Die Männchen dieser Art bevorzugen One-Night-Stands, können es mit keinem Bergwühlmausweibchen lange aushalten, und ihr Nachwuchs ist ihnen schnurzpiepegal. Ganz anders verhalten sich ihre engen Verwandten, die Präriewühlmäuse. Sie führen eine mustergültige Ehe. Nach dem ersten Sex verbringen männliche und weibliche Tiere den Rest ihres Lebens miteinander und sind sich oft sogar über den Tod eines Partners hinaus treu. Das Männchen lebt monogam und kümmert sich rührend um den Nachwuchs.

 

Wie lässt sich dieses unterschiedliche Verhalten erklären? Zwei amerikanische Forscher, Tom Insel von der Emory University in Atlanta und Sue Carter von der Universität von Illinois, hatten sich jahrelang mit der nordamerikanischen Wühlmaus beschäftigt. Sie erkannten, dass eine winzige Genveränderung für den Unterschied verantwortlich ist. Die betroffenen Gene regeln die Produktion von Oxytocin und eines weiteren, eng verwandten Botenstoffs namens Vasopressin. Präriewühlmäuse hatten wesentlich mehr dieser beiden Botenstoffe in ihrem Blut. Als die Forscher deren hormonproduzierendes Gen ausschalteten, war’s mit ihrer Treue und Fürsorge vorbei, und die Neurobiologie hatte ein neues Thema gefunden: Oxytocin. Es wurde öffentlichkeitswirksam gleich zum „Kuschelhormon“ ernannt.

Oxytocin wird im Hypothalamus gebildet und in der Hirnanhangdrüse gespeichert. Es zählt zu den Neuropeptiden, das sind Proteine, die als Botenstoffe zwischen den Zellen fungieren. In erster Linie dient Oxytocin dazu, dass bei einer Schwangeren die Wehen einsetzen, und es regt ihren Milchfluss in den Brüsten an. Schon seit den 1960er Jahren werden Oxytocin-Sprays bei Stillschwierigkeiten von Müttern eingesetzt. Menschliche Babys sind, anders als die Nachkommen vieler anderer Säugetiere, nach der Geburt völlig hilflos und damit auf die Fürsorge der Mutter und bis zu einem gewissen Grade des Vaters angewiesen. Das Neuropeptid Oxytocin ist offenbar neben seiner rein physiologischen Bedeutung für Geburt und Stillen auch dafür verantwortlich, dass Mütter eine Bindung zu ihren Babys aufbauen.

Wirkung nur, wenn es um ein soziales Risiko geht

Doch Oxytocin scheint noch eine viel größere Rolle zu spielen. Viele Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass das Neuropeptid einen entscheidenden Anteil an der Steuerung des Sozialverhaltens von Menschen hat. Die Neurophilosophin Patricia Smith Churchland, emeritierte Professorin an der Universität von Kalifornien in San Diego, glaubt, dass sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte die von Oxytocin gesteuerte Bindung der Mutter an ihr Neugeborenes auf andere Mitglieder der Sippe ausgeweitet hat. Clanmitglieder, die einander vertrauten, hatten eine insgesamt größere Überlebenschance. Heutzutage kommt dem Hormon sogar in den Beziehungen zwischen wildfremden Menschen eine Aufgabe zu.

Markus Heinrichs gilt als weltweit führender Oxytocin-Forscher. Er hat inzwischen den Lehrstuhl für Biologische und Differentielle Psychologie an der Universität Freiburg inne. Zusammen mit dem Verhaltensökonomen Michael Kosfeld hatte er die Rolle des Kuschelhormons noch während seiner Zeit an der Universität Zürich in einem berühmt gewordenen Experiment erforscht. Die beiden Wissenschaftler forderten jeweils zwei Versuchspersonen zu einem Vertrauensspiel auf. Die Spieler erhielten zu Beginn Spielgeld in Form von je zwölf Punkten. Dann sollte der erste Spieler (A) seinem Gegenüber (B) eine frei gewählte Summe übergeben. Der Spielleiter verdreifachte diese Summe. Wie viel würde B an A als Dank für die Anfangsinvestition zurückgeben? Je mehr A seinem Geschäftspartner B zu Beginn vertraut, desto höher wird der Betrag sein, dem der ihm zur Verfügung stellt, in der Hoffnung, dann einen möglichst hohen Betrag zurückzuerhalten. Alles hängt also vom gegenseitigen Vertrauen ab. Vor Spielbeginn erhielten die Probanden über ein Nasenspray eine kräftige Prise Oxytocin; eine Kontrollgruppe spielte das Vertrauensspiel mit einem Placebo. Das Ergebnis: oxytocinberauscht waren mehr als doppelt so viele Versuchspersonen bereit, ihrem Gegenüber den Maximalbetrag über den Tisch zu schieben, das heißt auf maximales Risiko zu gehen.

Nun könnte es natürlich sein, dass Oxytocin einfach ein bisschen leichtsinnig macht. Deshalb ließen die Forscher in einem weiteren Versuch Probanden unter dem Einfluss des Hormons gegen einen Computer mit gleichen Gewinnwahrscheinlichkeiten spielen. Siehe da: einer Maschine vertrauten die Oxytocin-Benebelten nicht mehr als die Teilnehmer aus der Kontrollgruppe. Das Hormon wirkt offenbar nur, wenn es um ein soziales Risiko oder Vertrauen zu echten Menschen geht.

Die beruhigende Wirkung von Oxytocin gilt nicht für alle

In Freiburg hat Heinrichs ein ähnliches Experiment mit 200 Freiwilligen aus Südbaden durchgeführt. Dabei wurden die Teilnehmer heftig unter sozialen Stress gesetzt, zum Beispiel indem sie vor der Kamera und einem strengen Gremium frei eine Rede halten sollten. Der Hälfte der Probanden standen dabei ihre Lebensgefährten beiseite und leisteten Zuspruch, was zur Ausschüttung von Oxytocin führt. Die andere Hälfte musste alleine mit der Situation fertig werden. Wir erwartet, lag das Stressniveau bei den Teilnehmern mit Partner deutlich niedriger. Das Oxytocin beruhigt. Doch das galt nicht für alle.

Heinrichs und seine Kollegen hatten die Probanden zuvor einem Gentest unterzogen. Dabei betrachten sie einen bestimmten Abschnitt, an dem sich die Erbinformationen für die Oxytocin-Rezeptoren im Gehirn befinden. Bei denjenigen, die auch durch ihre Partner nicht zu beruhigen gewesen waren, entdeckten sie häufiger eine bestimmte Genvariante. Acht bis neun Prozent der Bevölkerung besitzen sie. „Es handelt sich dabei um Menschen, die Schwierigkeiten in verschiedenen sozialen Leistungen haben“, sagt Heinrichs. „Die meisten von ihnen werden kaum verstehen, wieso sich andere Menschen bei Kummer an ihre besten Freunde wenden.“ Die schwerwiegendste Form von Bindungsstörung ist der Autismus – Autisten sind mehrheitlich Träger dieser Genvariante.

Nun will die Forschungsgruppe um Heinrichs herausfinden, wie die bislang Oxytocin-Unempfindlichen auf ein Nasenspray mit dem Neuropeptid ansprechen oder ob sie eventuell eine höhere Dosis benötigen. Je nachdem, wie das Ergebnis ausfällt, könnte sich so nämlich eine Möglichkeit auftun, schwere Beziehungsstörungen wie Autismus zu behandeln. Heinrichs ist zumindest optimistisch, dass man in Zukunft mit dem Kuschelhormon soziale Phobien, also die Angst vor Kontakt mit anderen Menschen, in den Griff bekommen kann – und vielleicht sogar einen Fuß in die Tür für die Behandlung von Autismus. „Ein Medikament gegen Angst wird es wohl nicht geben“, meint der Psychologieprofessor. „Aber ich bin zuversichtlich: Mit diesen neuen Ansätzen können wir bald wirksame Psychotherapieverfahren hoffentlich deutlich effektiver machen.“