Viele Jahre lang setzten viele Psychotherapeuten darauf, dass psychische Leiden auf Erkrankungen des Gehirns zurückzuführen sind. Doch mittlerweile mehren sich die Zweifel an dieser These.

Stuttgart - Früher galten psychische Erkrankungen als Störungen des Seelenlebens eines Menschen. Heutzutage sind sie in den Augen vieler biologisch orientierter Psychiater vor allem eines: Erkrankungen des Gehirns. Bei den Patienten sei die Neurochemie im Gehirn im Ungleichgewicht oder die grauen Zellen seien in anderer Hinsicht krankhaft verändert. Die Wirksamkeit von Psychopharmaka scheint dieser Annahme recht zu geben. Schließlich greifen sie in der Regel in das System von Botenstoffen im Gehirn ein, die für die Kommunikation zwischen Nervenzellen wichtig sind.

 

Auch dank des Marketings von Pharmafirmen ist im öffentlichen Bewusstsein vor allem eine Vorstellung der biologischen Psychiatrie gut verankert – nämlich dass bei Depressionen ein Mangel des Botenstoffs Serotonin vorliege. Antidepressiva könnten diesen Mangel ausgleichen, so wie man bei Diabetes den Insulinmangel kompensiert. Das ist die Theorie. Doch bis zum heutigen Tage bleibt die Psychiatrie den Nachweis dafür schuldig. So waren etwa Versuche, durch Absenken des Serotoninspiegels depressive Zustände bei Freiwilligen herbeizuführen, alles andere als von Erfolg gekrönt. In einer Übersichtsarbeit von 2009 im Fachblatt „European Neuropsychopharmacology“ sichteten dänische Forscher diverse Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zu dem Thema. Auch sie fanden keine überzeugenden Belege für ein anomal funktionierendes Serotoninsystem bei depressiven Erkrankungen.

Man weiß nicht, wie Antidepressiva wirken

Man wisse bis heute nicht, wie Antidepressiva wirken, so Felix Hasler, Pharmakologe und Forschungsassistent an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität. Er kritisiert in seinem aktuellen Buch „Neuromythologie“ die Auswüchse einer Psychiatrie, die sich immer stärker neurowissenschaftlich und biologisch orientiere. „Die Fokussierung der Psychiatrie auf die Biologie wäre kein Problem, wenn der Ansatz funktionieren würde und man tatsächlich ein tiefes Verständnis der Prozesse im Gehirn psychisch Kranker hätte.“ Doch schon die Grundannahme, dass psychische Erkrankungen dem Wesen nach nichts anderes als Erkrankungen des Gehirns sind, sei bis heute nur eine Behauptung geblieben.

Schwer tut sich die biologische Psychiatrie aber nicht nur damit, die Wirkung bereits etablierter Psychopharmaka zu erklären. Auch bei der Entwicklung innovativer Medikamente hapert es. Am Anfang stand dabei die Idee, im Gehirn Zielorte für psychische Störungen zu identifizieren, wie etwa zelluläre Andockstellen für die Botenstoffe Serotonin oder Dopamin. Hatte man diese erst einmal ausfindig gemacht, wollte man entsprechende Wirkstoffe entwickeln, die sie zielgerichtet beeinflussen.

Tausende von Studien durchgeführt

„Man hat eine ganze Reihe von Medikamenten für solche Zielorte entwickelt – und sie nach und nach wieder aufgegeben, weil sie in den klinischen Studien scheiterten“, sagt Felix Hasler. „Man hat tausende von Studien durchgeführt, viel Geld investiert und letztlich nichts Relevantes für die klinische Anwendung gefunden.“ Meist scheiterten die Versuche, anfängliche Studienergebnisse in größeren Untersuchungen zu bestätigen. Die großen Hoffnungen hätten sich einfach nicht erfüllt, so Hasler. „Hinsichtlich der medikamentösen Behandlung gibt es im Vergleich zu der Zeit vor 30 Jahren keinen Fortschritt.“

Die Probleme einer biologisch orientierten Psychiatrie beginnen allerdings schon bei der Diagnose. Psychiatrische Diagnosen beruhen bisher nicht auf objektiven Labortests. Vielmehr ziehen Psychiater über Gespräche und klinische Beobachtung die Symptome eines Patienten heran. Eine langjährige Hoffnung ist es daher, objektiv messbare biologische Anzeichen psychischer Erkrankungen zu finden, um eine eindeutige Diagnose zu stellen.

Es gibt keine biologischen Diagnoseverfahren

Eigentlich war es die ambitionierte Absicht, solche Biomarker in die jetzt erscheinende fünfte Version des Diagnosehandbuchs psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (DSM-V) aufzunehmen. Doch man musste das Projekt aufgeben. Denn weder mit Gentests noch mit klinisch-chemischen Untersuchungen oder bildgebenden Verfahren gelingt es bisher, Normalität von Depression oder Schizophrenie zu unterscheiden. Es gibt bis heute für keine einzige psychische Störung ein biologisches Diagnoseverfahren.

Obwohl man noch keine eindeutigen biologischen Entsprechungen von psychischen Störungen im Gehirn gefunden hat, hofft man in der biologischen Psychiatrie weiter. Man setzt auf immer mehr Studien mit immer leistungsfähigeren Hirnscannern. „Vielleicht sucht man hier aber einfach am falschen Ort“, sagt Felix Hasler. Bei psychischen Störungen sei nämlich überhaupt nicht klar, was bestimmte minimale Veränderungen im Gehirn bedeuten. Sind sie tatsächlich Ursache oder nicht vielmehr eine Folge der Erkrankung? Wenn man beispielsweise auf Grund biografischer Umstände wie etwa Überforderung eine Depression entwickelt, wird sich das mit der Zeit im Gehirn niederschlagen. Die biologische Veränderung ist in solch einem Fall keineswegs die Ursache der Depression.

Veränderungen im Gehirn als Folge von Medikamenten?

Und manche Veränderungen im Gehirn könnten schlicht eine Folge der eingenommenen Psychopharmaka sein. Volumenminderungen des Stirnhirns bei Schizophrenie-Patienten schien lange ein robuster Befund zu sein. Sie galten als Paradebeispiel für eine biologische Entsprechung einer psychischen Erkrankung. „Nun hat man aber herausgefunden, dass möglicherweise ein großer Teil der Volumenminderungen auf das Konto von Neuroleptika geht, auf deren Gabe man aber oft nicht verzichten kann“, sagt Felix Halser.

Inzwischen gibt es Anzeichen, das ein Umdenken stattfindet: „Psychiater nehmen mittlerweile wieder etwas Abstand von der Annahme, psychiatrische Erkrankungen seien lediglich Hirnerkrankungen“, berichtet der Psychiater, Neurologe und Philosoph Henrik Walter von der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Auch in der Psychiatrie gehe man inzwischen davon aus, dass es nicht ausreicht, allein auf die Biologie zu schauen, um psychiatrische Erkrankungen zu verstehen. „Man entdeckt etwas wieder, was man lange Zeit vergessen zu haben schien: Nicht nur die Biologie, auch soziale und biografische Umstände spielen bei psychischen Störungen eine große Rolle“, so Walter.