Familienstück zur Vorweihnachtszeit: im Stuttgarter Schauspielhaus inszeniert die Regisseurin Hanna Müller „Pünktchen und Anton“, den Kinderbuchklassiker von Erich Kästner. Zwischen Seifenblasen und Luftballons entfaltet sich ein herrlicher Zauber.

Stuttgart - Richtig ins Bild passen will es eigentlich nicht. Da hat man sich gerade an den eigenwilligen Performance-Stil gewöhnt, der die Intendanz von Armin Petras am Stuttgarter Schauspiel bisher geprägt hat – und dann plötzlich das: Die Inszenierung von Erich Kästners „Pünktchen und Anton“, die am Samstagnachmittag im Schauspielhaus ihre Premiere feierte, gibt den postdramatischen Mantel an der Garderobe ab und tanzt stattdessen im abgelegten Kleid des Erzähltheaters einen leichten, dynamischen Tanz zwischen Seifenblasen und Luftballons. Eine Kehrtwende? Naja, eher ein vorweihnachtliches Augenzwinkern. Diese Rückbesinnung auf die Stärken des von Figuren und Plot angetriebenen Erzähltheaters ist nämlich schlicht dem Rahmen geschuldet, in dem sie stattfindet: „Pünktchen und Anton“ ist das diesjährige „Familienstück“.

 

Zur Erinnerung: das „Familienstück“ des Staatstheaters soll in der Vorweihnachtszeit nicht nur das übliche Publikum, sondern auch Kinder in den Theatersaal locken, sei’s einzeln mit ihrer Familie, sei’s zusammen mit ihrer Schulklasse – eine Tradition, die man in der Stadt schon seit einigen Jahren pflegt. Geändert hat sich seither eigentlich nur der Name: Was früher „Weihnachtsmärchen“ hieß, ist heute das „Familienstück“. Märchenhaft und ein bisschen verzaubert sind die Inszenierungen allerdings nach wie vor. Vielleicht auch, weil man dabei besonders gern Klassiker der Kinderbuchliteratur auf die Bühne bringt. 2011 inszenierte das Theater, damals noch unter der Intendanz von Hasko Weber, beispielsweise Hans Christian Andersens „Schneekönigin“, 2013 kam dann Astrid Lindgrens „Ronja Räubertochter“ dran. So gesehen ist die Entscheidung, in diesem Jahr Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ auf die Bühne zu bringen, nicht unbedingt überraschend. Man findet das Buch schließlich nicht nur in jeder gut sortierten Kinderbibliothek, sondern es spielt auch mit zeitlos brisanten Themen. Als da wären: eine unmögliche Freundschaft zwischen Kindern sowie Erwachsene, die vergessen haben, wie man sich umeinander kümmert – dazu noch eine gesunde Portion Kapitalismuskritik. Eine gute Grundlage für Familientheater also, das nicht nur verzaubern, sondern auch verändern will.

Verloren stolpern sie durch die Welt

Dennoch machen die Regisseurin Hanna Müller und ihre Dramaturgin Anna Haas aus „Pünktchen und Anton“ kein simples Lehrstück. Statt dem Publikum den erhobenen Zeigefinger entgegenzustrecken, wird ihre Kästner-Inszenierung zu einem wunderbar anrührenden Plädoyer für die Freundschaft, das trotz einer omnipräsenten und herrlich skurrilen Meta-Figur, die als interpretierender Erzähler durch das Stück führt, darauf verzichtet, eine einfache Moral aus seiner Geschichte zu ziehen.

Die Tragweite der Thematik ergibt sich vielmehr aus der Inszenierung selbst: Zwischen einer minimalistischen Stahlkonstruktion stolpern Pünktchen (Caroline Junghanns) und Anton (Christian Czeremnych) durch eine Welt, in der sie beide je auf ihre eigene Art verloren sind: Pünktchen, Tochter des wohlhabenden Schraubenfabrikanten Pogge, ist von den dauerhaft mit sich selbst beschäftigten Eltern zwischen Spielzimmer und Kindermädchen vergessen worden. Ihr Freund Anton hingegen muss sich neben der Schule mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, um die krebskranke Mutter finanziell zu unterstützen.

Im Kern entfalten sich oben auf der Bühne also zwei Geschichten, welche die Ignoranz offenlegen, mit der die beiden Protagonisten zu kämpfen haben: einmal von innen und einmal von außen. Während Anton mit voller Wucht die Kälte der Gesellschaft zu spüren bekommt, kämpft Pünktchen gegen das schweigende Regime der eigenen Familie. Was daraus entsteht, ist die Freundschaft zweier Extreme, die in ihrer Zuneigung zueinander plötzlich gar nicht mehr so unterschiedlich wirken und gleichzeitig von einer Art der bedingungslosen Liebe erzählen, die man so unironisch nur noch selten auf der Bühne sieht. Und dann will man unten im Parkett zustimmend nicken, wenn Caroline Junghanns sich als Pünktchen trotzig vor die eigene Mutter stellt und erklärt, dass Anton ihr bester Freund sei und man ihm nun helfen müsse, wenn er Probleme habe – auch wenn das bedeute, nachts mit ihm im heruntergekommensten Viertel der Stadt betteln zu gehen. Ja, stimmt schon. So einfach kann es manchmal sein.

„Peng“ – und schon ist man sich nah

Auch oben auf der Bühne durchlaufen die Erwachsenen einen Erkenntnisprozess. Offensichtlich wird das vor allem, weil das Kästner-Stück in einer Welt des absoluten Kommunikationsversagens spielt – und das ist eindrucksvoll inszeniert. In einer der stärksten Szenen bewegen sich die Figuren durch Berge aus weißen Luftballons, zwischen denen sie nicht nur den Kontakt zueinander verlieren, sondern Stück für Stück auch sich selbst. Erst als es plötzlich „Peng“ macht und die Luftballons durch Antons scheinbare Tollpatschigkeit zerplatzen, merken sie, wie nah sie die ganze Zeit nebeneinander standen.

Trotz aller Probleme, die also verhandelt werden, vergisst „Pünktchen und Anton“ jedoch nicht, was es eigentlich sein will: ein schillernder Theaternachmittag für Kinder – schrill und oft liebevoll schräg. So klettern die Schauspieler mal ins Publikum, werfen mal mit Windbeuteln oder ziehen sich gegenseitig eins mit der Bratpfanne über. Dass dieser fröhliche Klamauk funktioniert, ohne dass die Geschichte etwas von ihrer Glaubhaftigkeit einbüßt, liegt vor allem daran, dass das Inszenierungsteam die Figuren zwar ironisch überzeichnet, sie dabei aber zu keinem Zeitpunkt zu platten Stereotypen verkommen lässt. Die dicke Berta (wunderbar: Rahel Ohm), Haushälterin der Familie Pogge, wird trotz hellblauem Ganzkörperjogging-Anzug, der aus voller Kehle „Trash“ und „Cindy aus Marzahn“ schreit, zur liebevoll inszenierten Sympathieträgerin. Und selbst Pünktchens Hund Piefke, ein mit Helium gefüllter Ballon mit Wackelbeinen, den sie ständig hinter sich her schleift, wird trotz komischem Potenzial so liebevoll bespielt, dass er zwar lustig, jedoch zu keinem Zeitpunkt lächerlich wirkt.

„Pünktchen und Anton“ im Stuttgarter Schauspielhaus: ein Spaß für die ganze Familie – und ganz traditionell.