Lange ging Recep Tayyip Erdogan gegen soziale Medien vor. Jetzt haben sie ihm geholfen, den Umsturz zu verhindern.

Ankara/Stuttgart - Plötzlich flogen F-16 Militärjets im Tiefflug über Ankara und Hubschrauber schwebten über den Dächern. In Istanbul fuhren die Panzer vor, bewaffnete Soldaten riefen eine Ausgangssperre aus und befahlen den Menschen, nach Hause zu gehen. Als Teile des türkischen Militärs in der Nacht von Freitag auf Samstag einen Putschversuch unternahmen, verweilte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gerade im Urlaub in Marmaris an der Südwestküste des Landes.

 

Spätestens dann, als die Soldaten in das Gebäude des staatlichen Senders TRT eindrangen und vor laufender Kamera eine Nachrichtensprecherin unter vorgehaltener Waffe die Machtübernahme des Militärs verlesen ließen, wurde es der türkischen Bevölkerung bewusst: Zum fünften Mal in der Geschichte der Republik versuchte das Militär, einen Umsturz herbeizuführen. Die Putschisten hatten nach kürzester Zeit die beiden Brücken über den Bosporus unter Kontrolle gebracht, und standen nun vor der Übernahme der Sendestudios und Antennen, was die Kontrolle über die Medien und somit die Deutungshoheit über die aktuellen Geschehnisse bedeutete.

Auftritt wirkt ungewohnt und skurril

Bis dahin hörte man lange Zeit nichts von Erdogan. Schließlich blieb ihm nur ein Smartphone, um die türkische Bevölkerung zu erreichen. Per Face-Time, einem Videotelefonie-Dienst, schaltete sich der türkische Präsident über ein iPhone in eine Live-Sendung auf CNN-Türk ein – später wurde auch dieser Sender von bewaffneten Soldaten gestürmt. Wo Erdogan sich befand, wusste keiner. Alles, was man erkennen konnte war ein weißer Vorhang im Hintergrund. Der Staatschef, der sich sonst so gerne als Sultan inszeniert, erschien dabei auf einem kleinen 4,7-Zoll-Bildschirm, was ungewohnt und irgendwie skurril wirkte. „Ich rufe die Bevölkerung dazu auf, hinaus zu gehen auf die Straßen und Plätze, um für die Demokratie in unserem Land einzustehen“, verkündete Erdogan.

Sein Anruf über das Online-Medium hatte große Wirkung. Es zeigte nicht nur, dass er noch am Leben war, sondern auch kampfbereit. Das Video, in dem er zum Widerstand gegen die Putschisten aufrief, verbreitete sich in kürzester Zeit in den sozialen Netzwerken und erreichte so die Bevölkerung. Schon kurz darauf strömten tausende Erdogan-Anhänger, aber auch viele Bürger, die gegen einen Putsch waren, in mehreren türkischen Städten auf die Straßen und protestierten. In Istanbul begaben sich die Menschen in Lebensgefahr, stellten sich vor die anrollenden Panzer, kletterten darauf und zerrten die Soldaten aus den Fahrerkabinen. Andere begaben sich zum Taksim-Platz oder zum Atatürk Flughafen, wo sich die Putschisten im Laufe des Abends schließlich unter dem Druck der Protestierenden zurückzogen.

Es steckt voller Ironie, dass gerade Erdogan, der als Gegner der sozialen Netzwerke bekannt ist, bereits mehrere unliebsame Websites sperren ließ und 2013 Twitter als „Bedrohung für die Gesellschaft“ titulierte, in dieser Nacht von den Onlinemedien so sehr profitierte. Das Netz wurde in der Putschnacht zum wichtigsten Informationskanal, denn im Gegensatz zu den klassischen Medien wie dem Fernsehen hatte das Militär die sozialen Netzwerke nicht ins Visier genommen. Erdogans Botschaften und Parolen – er twitterte fleißig – verbreiteten sich ungehindert im Netz.

Putschversuch in Echtzeit in den sozialen Medien

Auf der anderen Seite wurden alle, die im Fernsehen oder auf Nachrichtenseiten zu wenig Informationen über die Entwicklung des Putschversuchs fanden, online viel schneller fündig. Ob über Twitter oder die zahlreichen Periscope- oder Facebook-Livestreams: wie schon vor Jahren beim arabischen Frühling oder bei den Protesten in Kiew konnte man die Geschehnisse in Echtzeit vom Computer- oder Smartphone-Bildschirm aus verfolgen. Auf der Internet-Seite „Flightradar24“ verfolgten Nutzer nicht nur die allgemeinen Flugbewegungen über der Türkei, sondern auch die Route von Erdogans Flugzeug, das über der Westküste mehrere Kreise geflogen war, bevor es zum Landeanflug im Atatürk Flughafen überging.

Als Erdogan schließlich mitten in der Nacht in Istanbul landete, war der Putschversuch schon fast zerschlagen. Bereits Stunden später war der Präsident am Morgen nach der blutigen Nacht wieder zurück in seinem Format: nicht mehr auf mickrigen 4,7-Zoll, sondern auf den viel größeren Fernsehbildschirmen. In einer Rede beschwor er die Einheit der Nation herauf und unterstrich noch einmal die Botschaft, die am Abend zuvor auf seinem Twitter-Account die meisten „Gefällt mir“-Angaben erhielt: „Die Verräter werden den Preis bezahlen.“