In Stuttgart weiß man von zehn Leuten, die bislang nach Syrien gereist sind, um dort in den sogenannten Heiligen Krieg zu ziehen. Terrorismusexperten befürchten, dass vor allem Jugendliche ausreisen könnten. Aber was treibt sie dazu, in den Krieg zu marschieren?

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Auf 100 bis 120 Personen schätzt der Terrorismusexperte des Landesamtes für Verfassungsschutz, Herbert Landolin Müller, die Zahl der potenziell gewaltbereiten Salafisten in Stuttgart. Landesweit liege die Zahl bei rund 550, berichtete er am Mittwoch im Internationalen Ausschuss des Gemeinderats. Er geht aber von einer höheren Dunkelziffer aus. Das zeigten die Ausgereisten nach Syrien, die im Vorfeld nicht alle bekannt waren. Aus dem Raum Stuttgart wisse man aktuell von zehn Leuten, die nach Syrien gereist seien, um dort in den sogenannten Heiligen Krieg zu ziehen. Mindestens sechs hätten es geschafft, zwei seien tot, zwei inzwischen zurückgekehrt. Bei „mehreren jungen Leuten“ sei eine Ausreise zu befürchten.

 

Die Stuttgarter Salafisten verteilten sich nach Kenntnis des Verfassungsschutzes vor allem auf vier Gemeinden, wobei die Moschee in der Regerstraße in Botnang und die Gemeinde Masjid al-Khayr an der Strohgäustraße in Zuffenhausen, eine Abspaltung der Botnanger Gemeinde, laut Müller klar salafistisch sind. Entsprechende Einflüsse sieht der Verfassungsschutz auch beim Islamischen Bund an der Viaduktstraße sowie beim Islamischen Zentrum Stuttgart an der Waiblinger Straße in Bad Cannstatt. Nicht jeder, der in diese Einrichtungen gehe, sei aber verfassungsfeindlich einzustufen, betonte Müller. Und Martin Lang, der Inspektionsleiter vom Staatsschutz der Polizei, der ebenfalls als Experte geladen war, stellte einordnend klar: Eine offen dschihadistische Szene wie anderswo in Deutschland gebe es in der Landeshauptstadt nicht.

Junge Islamisten gibt es heute auch am Bodensee

Eine Entwicklung ist Müller zufolge zu beobachten: Propagandaveranstaltungen würden vermehrt in den privaten Raum verlegt. Dass sich Menschen radikalisieren, könne unheimlich schnell gehen, so Müller. In einem Fall sei dies innerhalb eines dreiviertel Jahres geschehen, dann war „der Kleine so weit“, in den Krieg zu ziehen. Vor allem das Internet sei ein Faktor geworden. Müller sprach vom „Imam Google“ – gebe man das Stichwort Islam ein, lande man auf den falschen Seiten. Durch das Internet gebe es auch keine Provinz mehr. Junge Islamisten gibt es heute etwa auch am Bodensee. Martin Lang versuchte zu erklären, was junge Leute dazu treibt, in den Krieg zu marschieren: wer das tue, steige in der Hierarchie des Umfelds deutlich.

Doch was könnte man präventiv tun? Müller und Lang setzen hier beide auf desillusionierte Rückkehrer, um junge Leute zu erreichen. Der Verfassungsschützer glaubt nicht, dass klassische Imame der gemäßigten Moscheegemeinden die radikalisierten Jugendlichen wieder einfangen können: „Gerade die Herkömmlichen sind den jungen Leuten ein Dorn im Auge,“ An den Schulen sei zudem ein Großteil der Lehrer dem Thema nicht gewachsen.

Stadt muss Stände von Salafisten erlauben

Der Integrationsbeauftragte der Stadt, Gari Pavkovic, zeigte auf, wie sehr der Stadt bei dem Thema die Hände gebunden sind. Der Gemeinderat hat der Verwaltung vor Jahren untersagt, mit Moscheegemeinden zu kooperieren, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Demokratieerziehung in gemäßigten Gemeinden, die ohnehin die Jugendlichen nicht erreichen, kann man sich seiner Ansicht nach sparen. Diejenigen, die eine starke Jugendarbeit machten, wie die Gemeinschaft Milli Görüs, dürfe man aber nicht aufsuchen. „Wir müssten ein Jugendforum für diejenigen schaffen, die sich in den Gastarbeitermoscheen nicht zu Hause fühlen“, so Pavkovic.

Tätig werden will die Verwaltung in Zusammenhang mit Infoständen in der Königstraße. allerdings nicht in Form eines Verbots. Wie berichtet nutzen Salafisten der „Lies mich“-Kampagne die Stände für Koranverteilungen. Ordnungsbürgermeister Martin Schairer (CDU) erklärte, dass die Stadt Stände von Salafisten auch in Zukunft erlauben müsse und werde. Momentan sind Infostände, die natürlich nicht nur von Salafisten gebucht werden, an 16 Plätzen in der Innenstadt möglich. Die Verwaltung will aber die Sondernutzungsregeln in Richtung Milaneo auf der einen und Paulinenbrücke auf der anderen Seite ausweiten, um die Situation auf der Königstraße zu entspannen. Schairer kündigte einen entsprechenden Vorstoß an.