60 Minuten im Kreis auf einer Rennbahn so viele Meter abspulen wie möglich – es ist die finale Flucht des Jens Voigt. Der 42-jährige Ausreißerkönig will am 18. September den legendären Stundenweltrekord brechen und dann endgültig die Karriere beenden.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Wie viele Meter kann ein Mensch in einer Stunde maximal auf dem Rad zurücklegen? Das ist eine der großen Fragen des Radsports, und Jens Voigt wird eine Antwort geben. Am Donnerstag wird die Welt wissen, wie viele Meter Jens Voigt in 60 Minuten fahren kann, und ob es vielleicht so viele sind wie nie zuvor in der Radsportgeschichte – ob der 42-Jährige also den in der Branche legendären Stundenweltrekord brechen kann.

 

Die letzte Stunde des Radprofis Jens Voigt schlägt am 18. September.

Voigt hatte seine Karriere ja eigentlich beendet. Bei der USA Pro Challenge 2014 war er vor einigen Wochen endgültig vom Sattel gestiegen. Dachte man. Sagte er. Doch wenige Tage später meldete er sich mit einem Paukenschlag zurück: Er will den Stundenweltrekord attackieren, diese ikonische Bestmarke des Radsports. Den Wert von Ondrej Sosenka gilt es zu überbieten: 2005 fuhr der Tscheche 49,700 Kilometer in einer Stunde. Am 18. September wird Voigt im Velodrom in Grenchen/Schweiz den Kampf angehen. Am Tag vorher wird er 43. Das Holzoval in Grenchen ist 250 Meter lang. 199 Runden wären 49,750 Kilometer. Und ein neuer Weltrekord.

Es ist irgendwie passend, dass die Karriere des Jens Voigt nicht bei einem Rennen in den USA endet, sondern so: Mit einer letzten Flucht, einem finalen einsamen Kampf gegen die Uhr, alleine mit sich und dem Rad und seinen Beinen.

Jens Voigt kennt das Gefühl, alleine unterwegs zu sein, es hat seine Karriere bestimmt. Wie kaum ein anderer hat er die Exkursionen gesucht. Immer war er auf der Flucht. Dies ist sein letzter Kraftakt, eine finale Fahrt des Willens. 60 Minuten lang treten, als gäbe es kein Morgen. Meter um Meter fressen, um einen Meter mehr zu schaffen als jener Sosenka. Im Oval gibt es kein Ziel zu erreichen, es geht nach 250 Metern wieder von vorne los. Vielleicht zweihundertmal. Es gibt kein Peloton, das ihn jagt, es gibt nur einen Mann auf einem Rad und 3600 Sekunden Vollgas. Physischer wie psychischer Stress. Erbarmungslos tickt die Uhr.

Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack.

Der Stundenweltrekord gilt als die letzte Prüfung im Radsport. „Es ist der ultimative Test. Kein Verkehr, ein Mann in einem Velodrom gegen die Uhr“, sagt Graeme Obree. Der Schotte fuhr zweimal Stundenweltrekord und ist eine der prägenden Figuren dieser Prüfung. Sie war seine Obsession. Er ging eine symbiotische Beziehung mit seinem Rad ein und testete die Grenzen aus. Wie ein Besessener tüftelte er am Material und an der Haltung auf dem Rad. Obree, der an Depressionen litt, kämpfte gegen die Zeit, aber auch gegen die Funktionäre des Weltverbands UCI, die den ungeliebten Eigenbrötler ausbremsten.

Um dem Wettrüsten eine Ende zu bereiten, verbot die UCI dann 2000 die modernen Zeitfahrmaschinen und strich alle zwischen 1984 und 1996 aufgestellten Bestmarken (damals hatte Chris Boardman den Rekord auf 56,375 Kilometer gesteigert). Mit der Regeländerung verloren die Stars das Interesse an dem Rekord. War die „magische Stunde“ früher das Schlachtfeld der Großen der Zunft, wurde das Feld nach dem ersten neuen Rekord nach neuen Regeln von Chris Boardman 2000 dann Fahrern wie dem unbekannten Tschechen Sosenka auf den vorgeschriebenen altmodischen Rädern überlassen (siehe auch „Der Stundenweltrekord“).

Um den Mythos wiederzubeleben, wurden in diesem Jahr neue Regeln beschlossen: Die Fahrer dürfen wieder moderne Zeitfahrräder nutzen. Jens Voigt ist nun der Erste, der sich traut. Der UCI-Präsident Brian Cookson sagt: „Das ist das, was wir uns erhofft hatten. Ich bin erfreut, dass einer der beliebtesten Fahrer den Versuch unternimmt“, sagt der Brite: „Ich hoffe, dass dies der Anfang einer neuen Welle des Interesses an der ,magischen Stunde’ ist – so, wie es in der goldenen Ära war.“

Fabian Cancellara hat bereits angekündigt, den Rekord brechen zu wollen. Eigentlich wollte er dies schon dieses Jahr versuchen, doch der Schweizer machte einen Rückzieher und hat das Projekt verschoben. Von der bereits geleisteten Vorarbeit profitiert nun sein Trek-Teamkollege Voigt. Auch der Tour-de-France-Sieger und Zeitfahr-Olympiasieger Bradley Wiggins aus Großbritannien hat den Stundenweltrekord im Blick, für Tony Martin dürfte die Herausforderung ebenfalls interessant sein. „Ich mache mir keine Illusionen, den Rekord zu behalten, wenn Fabian und die anderen Spezialisten sich daran versuchen“, sagt Voigt: „Aber ich mag die Idee, meinen Enkeln einmal davon zu erzählen, wenn sie mir als 75-Jährigem auf dem Schoß sitzen.“

Jens Voigt sagt, dass sein Versuch keine Zirkusnummer sei, sondern er es ernsthaft angehe, und er es auch nur versucht, weil er sich eine realistische Chance ausrechnet. „Wir haben in aller Stille ein paar Tests gemacht im Velodrom von Roubaix vor der Dauphiné, und wir glauben, dass ich eine faire Chance habe“, sagt Voigt, der ein guter, aber kein herausragender Zeitfahrer war. Sein Wille und seine Tempohärte sowie sein modernes Rad sprechen andererseits für ihn. Endet seine letzte Stunde als Radprofi mit einem Paukenschlag?