Die Irrfahrten des Odysseus sind legendär. Die Deutsche Bahn wagt sich nun an eine Umsetzung des antiken Stoffs. In der Neuinszenierung spielt der Stuttgarter Bahnhof eine wichtige Rolle, schreibt StZ-Kolumnist Erik Raidt.

Stuttgart - Die Deutsche Bahn wagt sich an einen der komplexesten Stoffe der abendländischen Kulturgeschichte: Das Unternehmen plant in den nächsten Jahren eine gigantische Umsetzung der „Odyssee“ – dabei will die Bahn den Schauplatz der Handlung in das moderne Stuttgart verlegen. Genauer gesagt auf das Gelände des Hauptbahnhofs, der Klett-Passage und der S-Bahnsteige. Die Premiere des Epos findet am 5. August statt, wenn der Aushub für die Grube des Tiefbahnhofs beginnt. Kurz darauf wird der direkte Zugang von den Fernbahngleisen zur S-Bahn gesperrt, es gibt neue Wege, Umwege, womöglich auch: Irrwege.

 

Dem Konzern ist in der Bearbeitung des Stoffs ein dramaturgischer Coup gelungen: Während in der Antike der Held Odysseus als Einzelfigur fantastische Irrfahrten und Abenteuer erlebte, dürfen im Jahr 2014 alle Menschen an der Odyssee durch den Stuttgarter Bahnhof teilnehmen. Im Original musste Odysseus auf seiner Heimfahrt gegen einäugige Riesen, Menschenfresser und Seeungeheuer bestehen – in der zeitgenössischen Inszenierung hat die Bahn ihren Passagieren erneut furchterregende Gegner beschert: Trogbaustellen, Brücken und Umleitungen stehen zwischen dem Fahrgast und seinem Ziel. Auf dem Weg von Irgendwo nach Nirgendwo flöten sirenenhafte Durchsagen durch zugige Hallen: „Der Intercity nach Köln ist heute 58 Minuten verspätet, er verkehrt heute an Gleis drei statt an Gleis acht.“

Gegen die Übermacht der Götter

Die Stuttgarter Odyssee gilt schon vor ihrer Premiere als heißer Kandidat für bedeutende Theaterpreise. Die Kritiker dürfte dabei vor allem begeistern, dass in den nächsten Jahren Hunderttausende von Laienschauspielern an der Inszenierung teilnehmen werden. Als Passagiere verkleidet erleben sie Tag für Tag den Kampf des Einzelnen gegen die Übermacht der Götter. Falls sie sich wider Erwarten verlaufen sollten, können sie sich trösten: Die Wege der Bahn sind unergründlich.

Verirrte Grüße, Erik Raidt