Vor 100 Jahren, mitten im Ersten Weltkrieg, ist das heutige Rathaus in Obertürkheim fertiggestellt worden. Das war einen Festakt mit viel Prominenz wert.

Obertürkheim - Die Nummer 659 in der längsten Straße Stuttgarts weckt bei deren Entdeckung Verblüffung und Staunen. Urplötzlich geht der Straßenraum in Obertürkheim auf wie ein große Lücke. Dann zeigt sich gemauerte Umfriedung, ein stattlicher Rahmen ausgewachsener Bäume und durch das schmiedeeiserne Tor wird der Blick ganz auf den Hauptdarsteller gelenkt, auf einen Prachtbau mit streng gezogener, horizontaler Geometrie, spiegelbildlich in der Querachse und mit einer an die Front gefügten Zwei-Flügel-Treppe, die unmissverständlich klar macht: Hier befindet sich die Obrigkeit! Ein durch die ansteigende Hanglage gesteigerter, wilhelminischer Herrschaftsgestus, der durch die römischen Säulen des Eingangsportals betont wird. Auch durch den Portalfries, der in Stein gemeißelt verkündet: „Erbaut im Kriegsjahr 1914 – 1915“.

 

Demokratisches Selbstbewusstsein kann das natürlich längst nicht mehr anfechten, im Gegenteil. In Zeiten rapiden Wandels sind solche historischen öffentliche Bauten von Rang wie säkulare Fingerzeige von immerhin relativer Unvergänglichkeit. Verknüpft mit dem Stolz auf etwas Vorzeigbares, von Generation zu Generation wie ein kostbarer, kollektiver Schatz gehütet und gepflegt.

Paare lassen sich hier gerne trauen

Selbst Uhlbacher, die stolz sind auf ihr historisches, in ein Weinmuseum transformiertes Fachwerk-Rathaus, sehen das so. Ein Thema, dem sich eine Runde, die auf dem Platz bei einem guten heimischen Tropfen zusammensaß, mit Begeisterung widmete. „Das hier ist trotzdem unserer Rathaus, das praktizierende Rathaus sozusagen. Das andere ist ein Museum. Die Uhlbacher sind extrem stolz auf dieses Gebäude“, sagt Claus-Jürgen Gütler-Ungerer. Eckhart Jäger bringt es so auf den Punkt: „Hier spielt die Musik!“ Und Hans Nicolai ergänzt: „Das ist natürlich ein hochherrschaftlicher Prachtbau. Im Alltag ist es aber schlicht ein nützliches Rathaus der kurzen Wege für alle Behördengänge, mitten in der Stadt. Und weil es auch eine Kulisse für etwas Besonderes ist, lässt man sich hier auch gerne trauen.“ Der Nutzwert des Baus mit der hier verorteten Verwaltung verlockt Andreas Brieger zu einer kritischen Bemerkung: „Wenn die Zentralisierung der Notariatsdienste tatsächlich kommt, dann wäre das für uns sehr unvorteilhaft.“

Die Bedeutung des Baus für die bürgerliche Gemeinde stellte dann auch Bürgermeister Werner Wölfle in den Mittelpunkt seiner Rede bei dem mit reichlich Prominenz besetzten Festakt im Rathaussaal: „Dieses schöne Bezirksrathaus ist in seiner Verbindung von Verwaltungsgebäude, Versammlungsort und Bürgerservice ein Kristallisationspunkt des öffentlichen Lebens. Ich sehe darin ein Stück gelebte Demokratie. Wenn wir uns dessen bewusst bleiben, dann bin ich davon überzeugt, dass wir auch die aktuellen Herausforderungen gemeinsam bewältigen können.“ Ein Satz, den die Festgesellschaft mit unmittelbarem Beifall bedachte.

Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg

Große Aufmerksamkeit erfuhr auch der Festvortrag des Historikers Uwe Reiff, der sich der mit manch sprechenden Details gespickten Baugeschichte des vom Obertürkheimer Architekten Wilhelm Pfeiffer entworfenen Bauwerkes widmete, einschließlich der mühsamen Wiederherstellung nach den Bombenschäden infolge des Zweiten Weltkrieges.

Draußen gaben Obertürkheimer Grundschüler dem Geburtstagskind ein Ständchen, drinnen wurden in den offenen Räumen Erinnerungen aufgefrischt, vor allem im Trauzimmer. Etwa von Hermann Rehm, der hier 1974 getraut wurde. Jetzt meinte er: „Ich hab’s nicht bereut!“ Bereits 1968 hatten sich hier Brigitte Fober und Franz Rukatukl das Ja-Wort gegeben. Jetzt waren sie erstmals wieder in dem Raum. Das Gefühl dabei? „Wir haben uns in den Arm genommen.“ Der Jubilar darf sich geehrt fühlen.