Der langjährige SÖS-Stadtrat Gangolf Stocker hat sein Amt niedergelegt. Schon früh hat er sich gegen Stuttgart 21 engagiert, kann aber mit den heutigen Protesten nichts mehr anfangen.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - „Meine Wirbelsäule ist im Eimer“, sagt Gangolf Stocker. Was sich nach einer für einen bald 72-Jährigen altersgemäßen Klage anhört, wiegt bei Stocker doppelt schwer. Das Rückgrat ist für den gebürtigen Badener im übertragenen Sinne das wichtigste kommunalpolitische Körperteil. Dass er nun seinen Stadtratsposten nach sieben Jahren räumt, ist aber tatsächlichen gesundheitlichen Problemen geschuldet. Und einer Ernüchterung, die sich in Gangolf Stocker breitmacht. „Ich habe der Fraktion schon im vergangenen November gesagt, dass ich mit dem Quatsch aufhöre“: Mit dieser unschönen Vokabel belegt der Stadtrat das kommunalpolitische Treiben im Hohen Haus am Marktplatz.

 

Stocker möchte „möglichst lautlos verschwinden“

Er legt Wert darauf, Abstand zum Rathaus zu gewinnen. Zum Gespräch bittet er aber nochmals in ein Café in der Nachbarschaft der ehemaligen Wirkungsstätte. Bei der Amtseinführung seines Nachfolgers, Luigi Pantisano, fehlte Stocker krankheitsbedingt. Sein Bedürfnis, nach seinem Ausscheiden noch regelmäßig im Rathaus vorbeizuschauen, hält sich in Grenzen, auf eine Verabschiedung im größeren Rahmen legt er keinen gesteigerten Wert. „Ich verschwinde möglichst lautlos“, sagt der Mann, der mit seinen Mitstreitern in der Vergangenheit aber gern einmal Lärm geschlagen hat am Ratstisch. Das Lautlose war seine Sache bisher eher nicht.

Diese Art hat ihm nicht nur Freunde im Rathaus eingebracht. „Unsere Fraktion wurde von den anderen an den Rand gedrängt. Wir sind die Schmuddelkinder“, sagt Stocker im Rückblick. Zuletzt hat der streitbare Stadtrat freilich auf die ganz großen Grabenkämpfe verzichtet – und umso mehr Zeit gehabt, den Blick durch den Sitzungssaal schweifen zu lassen. „Interessant ist die Körpersprache der anderen. Man sieht regelrecht, wie wichtig sie sich nehmen“, erklärt Stocker.

Schon 1994 gegen Stuttgart 21 gekämpft

Seit 2009 saß er am Stuttgarter Ratstisch für das parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial, kurz SÖS. Der Einzug ins Rathaus war fast schon die logische Folge aus Stockers Hang, sich einzumischen und zu Wort zu melden. Der neue Alt-Stadtrat kann sich zugutehalten, schon sehr früh Position gegen das Projekt Stuttgart 21 bezogen zu haben. Noch 1994 – also in dem Jahr, in dem die Pläne zur Umgestaltung des Stuttgarter Bahnknotens bekannt wurden – gründete Stocker die Initiative „Leben in Stuttgart – Kein S 21“. Dass sich am Bahnhof die Bagger in die Erde graben, der Bonatzbau keine Seitenflügel mehr hat und im Rathaus an einer Bürgerbeteiligung zur Nachnutzung der Gleisflächen gearbeitet wird, treibt Stocker noch immer um. Im Gemeinderat stieß er bis zuletzt bei den Projektbefürwortern auf taube Ohren. „Mit Argumenten kommt man nicht weiter. Die wollen einfach nichts wissen.“

Auch seine ehemaligen Mitstreiter, die gegen das Milliardenprojekt weiter unverdrossen auf die Straße gehen, finden keine Gnade mehr unter seinen Augen. „Die Montagsdemonstrationen haben doch längst den Charakter einer Marienandacht“, ätzt Stocker. Zu den Hochzeiten des Protests stand er noch in der ersten Reihe und versuchte als Sprecher des Aktionsbündnisses die verschiedenen Protestformen zu kanalisieren, der Kampf gegen den Tiefbahnhof brachte zeitweise mehrere Zehntausend Menschen auf die Straße. Am Abend der Landtagswahl im März 2011 warf Stocker die Brocken hin – und dies, obwohl an diesem Abend klar war, dass die Grünen den Ministerpräsidenten stellen würden. Eine Partei, die sich die meisten Aussagen der S-21-Gegner zu eigen gemacht hatte. Dass die einstigen Mitstreiter zu kritisch-konstruktiven Begleitern des Projekts wurden, schmerzt ihn bis heute. Stocker will immer noch nicht daran glauben, dass das Projekt wie heute geplant umgesetzt wird. „Das dicke Ende kommt noch, und man wird feststellen, dass der Bahnhof nix taugt“, sagt er. Stocker setzt darauf, dass am Ende doch noch ein Kombibahnhof – also eine Station mit tiefergelegten Gleisen, aber eben auch Bahnsteigen an der Oberfläche – gebaut wird. „Und wahrscheinlich lassen sich die Grünen dann dafür auch noch feiern.“

Fassungslosigkeit über die Kooperation zwischen Grünen und der CDU

Auf die ehemalige Öko-Partei ist Stocker nicht alleine wegen der Haltung zu Stuttgart 21 schlecht zu sprechen. Dass die Grünen im Stuttgarter Gemeinderat gar gemeinsame Sache mit der CDU machen, wie Stocker bei den jüngsten Etatberatungen erleben musste, macht ihn fassungslos. „Ich habe mit der CDU nichts am Hut.“

Stocker wünscht sich, dass der Gemeinderat erkennt, was in der Stadt zu tun ist. Zuallererst fällt ihm da die Wohnungspolitik ein, bei der viel mehr Impulse aus dem Rathaus kommen müssten. „Die Akteure werden aber gestreichelt statt gefordert.“ Es fehle bezahlbarer Wohnraum im großen Stil. „Die Zahl derer, die sich ein Leben in Stuttgart leisten können, wird immer kleiner.“ Doch weder der Rat noch die Rathausspitze gingen das Thema ernsthaft an.

Stocker rät von einem SÖS-Bürgermeister ab

Und wie soll sich seine ehemalige Fraktion verhalten, die womöglich Ansprüche auf einen Bürgermeisterposten erheben könnte, wenn Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann tatsächlich in die Landespolitik wechselt? Stocker braucht nicht lange für eine Antwort, die deutlich ausfällt. „Davon würde ich abraten. So ein Amt korrumpiert den Menschen.“ Da ist wieder die Wichtigkeit eines intakten Rückgrats.