In einem Raubprozess vor dem Stuttgarter Landgericht werden skurrile Verhandlungstage zur Normalität. Diesmal beklagt der Angeklagte seine Gefängnisjahre in Polen.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Holzgerlingen - Dass in diesem Prozess mit Pausen nahezu ebenso viel Zeit verbracht wird wie mit der Verhandlung, ist Gewohnheit. „Alter Wein in neuen Schläuchen“, sagt der Staatsanwalt Matthias Schweitzer. Eben hat der Verteidiger Moritz Schmitt die Entlassung seines Mandanten gefordert, einmal mehr, dies mit der Begründung, dass das Gericht den Angeklagten und seine Anwälte „fortgesetzten Fehlinformationen“ aussetzt. Einfacher formuliert: er argwöhnt, dass ihm Akten vorenthalten werden – ebenfalls einmal mehr.

 

Nebenbei fordert Schmitt eine weitere Pause, aber nicht wegen fortgesetzter Fehlinformation. Sein Mandant habe das Vertrauen in seinen zweiten Pflichtverteidiger verloren und Ersatz im Sinn, eine Anwältin aus Heilbronn. Schmitt möchte versuchen, die Kollegin ans Telefon zu bekommen. Die Vorsitzende Richterin, Manuela Haußmann, gewährt eine Unterbrechung von 15 Minuten. Ob sie den Antrag auf Wechsel des Anwalts genehmigen wird, lässt sie aber offen.

Dies ist keineswegs der erste skurrile Verhandlungstag im Prozess gegen einen 50jährigen Mann aus Litauen, der des Raubs und der Freiheitsberaubung verdächtig ist. Der spektakulärste Fall war ein Raub in der damaligen Daimler-Chrysler-Niederlassung in Holzgerlingen, laut Staatsanwaltschaft begangen von einer Bande bereits im Jahr 2002. Der Angeklagte wirft der Polizei und dem Staatsanwalt vor, mit rechtswidrigen Mitteln seine Verurteilung erzwingen zu wollen. Der Verteidiger wirft dem Gericht vor, das Recht zu beugen. Dies ist die rote Linie.

Die Zeit zwischen den Pausen ist durchaus interessant

Die Zeit zwischen den Pausen ist durchaus interessant. Nach dieser bekommt Schmitt Einblick in Akten, die er lieber nicht berücksichtigt haben will. Sie offenbaren, warum gegen den 50-Jährigen erst mit 14 Jahren Verspätung verhandelt wird. Die meiste Zeit seither hatte er in einem polnischen Gefängnis verbracht. Haußmann beginnt, die Übersetzung der dazu gehörenden Gerichtsurteile zu verlesen. Schmitt will die Verlesung stoppen. Sein Mandant widerspricht, das Urteil sei ohnehin nur ein Missverständnis, sagt er, also wird es verlesen.

Im April 2003 wurde der Angeklagte in Holland verhaftet, sechs Monate später nach Polen überstellt und 2004 verurteilt, wegen zweier Taten. Er hatte als Kopf einer Bande einen Mann entführt, ihn verprügelt, sein Auto gestohlen und 10 000 US-Dollar zu erpressen versucht. Bemerkenswerterweise weigerte sich das mit Handschellen gefesselte Opfer zu zahlen. Im zweiten Fall hatte der Angeklagte einer Familie mit der Sprengung ihres Hauses gedroht und 20 000 Dollar gefordert. Er bekam einen Volvo. So urteilte das Gericht im Namen des polnischen Volkes und verhängte eine Strafe von viereinhalb Jahren.

Zwölf Jahre Haft für sieben Entführungen

Was im Vergleich zum zweiten Urteil milde war. Zwölf Jahre Haft empfanden die Richter als gerecht. In diesem Fall wurde wegen sieben Entführungen samt Lösegelderpressung verhandelt, wieder begangen von einer Bande. Die Täter hatten ihre Opfer tagelang festgehalten, gefesselt und gefoltert. Die Höhe des Lösegelds schien frei verhandelbar. Mal waren die Entführer mit einem Bruchteil des geforderten Betrags zufrieden, mal zahlten Angehörige der Opfer nahezu die volle Summe. Diese Haft endete im Februar 2014.

Schmitt fordert – nach neuerlicher Pause –, die Verlesung der Urteile aus den Akten zu streichen, denn „die Verfahren waren rechtsstaatswidrig“, sagt er. Ungeachtet dessen will der Angeklagte sie kommentieren. „Das war ein Auftragsprozess der Konkurrenz“, sagt er. Er habe seine Unschuld lückenlos bewiesen. Verurteilt wurde er dennoch. „In den langen Jahren der Haft wurde ich gequält“, sagt er. „Ziel war, mich psychologisch zu brechen.“ Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe sich seines Falls angenommen und einmal bereits zu seinen Gunsten geurteilt.

Das ist Tatsache. Der 50-Jährige hatte sich vor den Europarichtern auf den Folterparagraphen der Menschenrechtskonvention berufen. Sie verurteilten den Staat Polen, 20 000 Euro an den Verurteilten zu zahlen. Was allerdings nicht heißt, dass die Richter an den Straftaten zweifelten, sondern an der Praxis polnischer Gerichtsbarkeit. Der Angeklagte musste seinen Prozess in Handschellen in einem Käfig verfolgen, der im Gerichtssaal aufgestellt war. Eine solche Behandlung gilt als entwürdigend.