Immer mehr Reisende wollen nicht nur Sehenswürdigkeiten abklappern, sondern Städte wie Einheimische erleben. Verschiedenste Anbieter machen dies möglich.

Leben: Susanne Hamann (sur)

Sankt Petersburg - Ein trister Plattenbau in einem Trabantenviertel im Süden Sankt Petersburgs. Viel Beton, wenig Grün. Der Stadtbezirk Frunsenski ist die Heimat von Russlands Ex-Präsident Dimitri Medvedev. Und von Galina (83) und Alla Skobeleva (56). Die Rentnerin und ihre Tochter wohnen in einer Straße namens Budapeshtskaya Ulitsa. Der Weg in die Wohnung im dritten Stock führt durch ein schäbiges Treppenhaus. Hinter der doppelten Wohnungstür jedoch öffnen sich liebevoll eingerichtete Räume. Die Familie lebt bescheiden auf geschätzt 50 Quadratmetern - Wohnzimmer, zwei winzige Schlafräume, Küche, Bad.

 

Wenn Allas Sohn Alexej nicht gerade bei der Armee wäre, würde er auf dem Sofa schlafen. Ihre Gäste aus Deutschland bewirten Mutter und Tochter am Wohnzimmertisch. Der ist reich gedeckt: frisch gebackene Blini, die typisch russischen Pfannkuchen, dazu Schwarztee, Wurst, eingelegter Weißkohl, saure Sahne, Brot, Pfeffernüsse und natürlich Wodka. Alla Skobeleva schenkt Tee ein und erzählt von ihrer Arbeit als medizinische Notfallhelferin. „Das ist ein Zwischending zwischen Krankenschwester und Arzt“, erklärt die Gästeführerin Irina Netschajewa (56), die für den Reiseveranstalter Gebeco die Touristengruppe begleitet und übersetzt.

Sie hat den Besuch bei ihrer alten Schulfreundin organisiert. Alla Skobeleva ist eine aufmerksame Gastgeberin. Immer wieder huscht sie in die Küche, um neue Blini zu backen. Man merkt nicht, dass sie für die Einladung bezahlt wird. Alla Skobeleva und ihre Mutter bewirten ab und zu Touristen aus Deutschland, die das echte Petersburg abseits der Prachtstraßen und Paläste kennenlernen wollen - gegen Honorar. Denn von ihrer Arbeit kann sie trotz Schichtdienst und Nebenjob nicht leben. „Bei organisierten Begegnungen, etwa einem gemeinsamen Mittagessen oder einer Teezeremonie, ist es selbstverständlich, dass wir den Einheimischen ein zusätzliches Einkommen ermöglichen“, sagt Ury Steinweg, Geschäftsführer von Gebeco. Der Ausflug nach Frunsenski kommt bei den Touristen aus Deutschland gut an.

Immer mehr Deutsche wollen fremde Länder authentisch erleben

Immer mehr Reisende wollen nicht nur Sehenswürdigkeiten abklappern, sondern Menschen kennenlernen. „Authentizität wird immer wichtiger. Viele Urlaubsarten sind einfach austauschbar geworden. Wichtiger ist das unverwechselbare Erlebnis vor Ort“, sagt Professor Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. Immer mehr Deutsche wollen fremde Länder authentisch erleben - Kultur, Natur und Menschen. Im Internet gibt es eine Fülle von Websites mit Insidertipps, die Bewohner vor Ort gesammelt haben. Seiten wie Spottedbylocals oder Likealocalguide listen persönliche Empfehlungen zu Restaurants, Geschäften, Kunst und Kultur auf. Manchmal gibt es die Möglichkeit, Fragen zu stellen, wie bei der Community Travellr. Auch die Wahl der Unterkunft hilft, sich von der Urlaubermasse abzusetzen.

Weil man in Hotels mutmaßlich nur andere Reisende trifft, bevorzugen Authentizitätfans Privatquartiere. Inzwischen gibt es bei Onlinevermittlern wie Airbnb, 9flats, Wimdu und Co. allerdings nicht mehr nur Zimmer zur Kurzzeit-Untermiete. Oft werden einfach Ferienwohnungen angeboten - der gewünschte Kontakt zu Menschen vor Ort entfällt. Neue Freunde am anderen Ende der Welt muss man sich auf andere Weise suchen. Zum Beispiel, indem man einen privaten Stadtführer engagiert. Greeter nennen sich solche ehrenamtlichen Gästeführer. Die Initiative wurde 1992 in New York gegründet. Inzwischen gibt es den Service weltweit. Natürlich könnte man einfach jemanden auf der Straße ansprechen und nach einem netten Café oder einer angesagten Bar fragen. Solche Zufälle können klappen - müssen aber nicht.

Bei den Greetern kann man ganz sicher sein, dass derjenige sich erstens auskennt und zweitens sein Wissen auch gerne teilt. So wie Catherine Desaive (48) aus Brüssel. Die Englischlehrerin zog vor 25 Jahren aus Liège in die belgische Hauptstadt und bietet Führungen durch den Stadtteil Ixelles. „Dieses Viertel ist so schön grün und individuell“, sagt Catherine Desaive. Ein- bis zweimal im Monat zeigt sie Touristen ihre Lieblingsecken, zum Beispiel die Place Flagey und das ehemalige Kloster La Cambre - aus Überzeugung und in ihrer Freizeit. Nach zwei Stunden ist der individuelle Stadtspaziergang beendet. Ein Honorar erwartet Catherine Desaive nicht. Die Nachfrage nach solchen Führungen ist groß, daher sollten sich Interessierte rechtzeitig anmelden. Wer unter den angebotenen Touren nichts Passendes findet, kann sich auf der Website Tripbod individuelle Erlebnisse zusammenstellen lassen. Die Seite vermittelt gegen Gebühr den Kontakt mit einem Experten vor Ort.

"Normtrotter" - die neue Form des Reisens

Dieser gibt je nach Interesse des Kunden Ratschläge und entwirft ein Programm. Persönliche Treffen sind allerdings nicht vorgesehen. Nicht jeder Reisende hat Lust und Zeit, sein persönliches Urlaubserlebnis auf eigene Faust zu organisieren. Man könnte in zwielichtige Gegenden oder an Menschen mit unlauteren Absichten geraten. 67 Prozent der Befragten einer Untersuchung des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung wünschen sich eine Begleitung durch Reiseleiter oder Dolmetscher. Daher gibt es immer mehr vom Veranstalter organisierte Begegnungen in geschütztem Rahmen. „Normtrotter“ nennt das Zukunftsinstitut im „Tourismusreport 2015“ die Reisenden, die solch ein Angebot buchen. Ein Globetrotter, der ebenso authentische Erlebnisse haben will wie ein Backpacker.

Aber bitte mit dem Komfort eines Hotelzimmers, statt mit Rucksack. Die Firma Gebeco bedient diesen Trend seit Unternehmensgründung 1978. „Es gehört zur Firmenphilosophie, durch Begegnungen mit den Einheimischen Brücken zu schlagen und den Austausch der Kulturen zu fördern “, sagt Firmenchef Ury Steinweg. Auch viele weitere Spezialveranstalter für hochwertige Studienreisen bieten ihren Kunden Einblicke in das Leben der Einheimischen, etwa Studiosus, Marco Polo Reisen oder Intrepid Travel.

Der Hamburger Veranstalters A & E Erlebnisreisen strebt dabei Begegnungen auf Augenhöhe an: beim gemeinsamen Kochen, Pflanzen oder Batiken. „So entsteht ein Mittendrin-statt-nur-dabei-Gefühl und ein echter Mehrwert, für die Reisenden als auch für die Menschen vor Ort“, sagt Geschäftsführerin Anja Dejoks. Alla und Galina Skobeleva in Sankt Petersburg können das Zubrot auf jeden Fall gut gebrauchen.

Begegnungen mit Einheimischen

Insidertipps
Tipps von Bewohnern des Reiseziels findet man etwa auf den Webseiten von Spotted by locals, www.spottedbylocals.com , oder Like a local guide, www.likealocalguide.com. Reisecommunitys: Reisefrage, www.reisefrage.net , Travellr, http://travellr.com , Localyte, www.localyte.com , My Local Scouts, www.mylocalscouts.org .

Kostenpflichtige, individuell zusammengestellte Tipps von Insidern gibt es bei Tripbod, www.tripbod.com oder Rent a local friend, https://rentalocalfriend.com/ .

Stadtführungen
Ehrenamtliche Stadtführer findet man über das Netzwerk der Greeter, www.globalgreeternetwork.info/

Kostenpflichtige Stadtführer: Stattreisen, www.stattreisen.org , Tours by locals, www.toursbylocals.com , Get Your Guide, www.getyourguide.de .

Unterkunft
Wohnungen auf Zeit weltweit bieten Portale wie Airbnb, www.airbnb.com , 9flats, www.9flats.com/de/ oder Wimdu, www.wimdu.de . Wohnungs- und Haustausch über Homelink, www.homelink.de oder Intervac, www.intervac-homeexchange.com .

Veranstalter
Bei Gebeco kann man den Besuch einer russischen Familie in Sankt Petersburg im Rahmen einer individuellen Privatreise buchen. Die 8-tägige Tour kostet inklusive Hotel, Halbpension und deutschsprachiger Reiseleitung ab 735 Euro, www.gebeco.de .

Die 16-tägige Kleingruppenreise „Like a local - Mitten im tropischen Inselleben“ nach Sri Lanka kostet bei A & E Erlebnisreisen pro Person mit Flug ab 2990 Euro, www.ae-erlebnisreisen.de .

Dr. Tigges hat eine Reise nach Istanbul namens „Begegnungen zwischen Asien und Europa“ im Angebot. 8-Tage-Studienreise ab 1245 Euro inklusive Flug, www.drtigges.de .

Allgemeine Informationen
Im Forum „anders Reisen“ haben sich mehr als 130 Veranstalter für nachhaltiges Reisen zusammengeschlossen, www.forumandersreisen.de .