Die Realschulen in Stuttgart schlagen Alarm - und fordern dringend Sozialarbeit, weil sich die Problemfälle häufen. Die Stadt zeigt wenig Interesse.

Stuttgart - So frustriert war Fred Binder noch nie. Denn der Hilferuf des geschäftsführenden Schulleiters der Stuttgarter Realschulen scheint bei Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer verpufft zu sein. "Wir brauchen dringendst Schulsozialarbeit", sagt Binder. "Wir haben derart viele Problemfälle, angefangen in der fünften Klasse. Das steigert sich in einer Weise, die von den Realschulen nicht mehr aufgefangen werden kann." Doch im Ausbauplan für die Sozialarbeit haben Realschulen nur vierte Priorität. Im anstehenden Doppelhaushalt hat die Sozialverwaltung keine Gelder für sie beantragt.

 

"Es gibt zunehmend Kinder, die sich nicht im Griff haben und total ausrasten: Die werden laut, stören, werden tätlich gegen Mitschüler und sind nicht mehr ansprechbar", berichtet Rektor Binder. Ein Schüler habe einen Stuhl gegen einen Schrank geworfen. Eine Schülerin habe die Nacht einmal unter dem Müllcontainer verbracht, weil sie es daheim nicht mehr ausgehalten hatte. "Wenn einer schreit, ,Ich bring euch alle um', ist das auch für die anderen Kinder nicht lustig." In so massiven Fällen könnten auch die Streitschlichter unter den Schülern nichts mehr ausrichten. "Wichtig wäre ein Schulsozialarbeiter", meint Binder. Damit hätten die Kinder dann einen Ansprechpartner, der kein Lehrer ist.

Warteliste für die Kinderpsychiatrie

Doch in manchen Fällen wäre selbst ein Schulsozialarbeiter überfordert: Allein in den vergangen zwei Jahren seien fünf Kinder in die Jugendpsychiatrie überwiesen worden. Das Problem: dort gibt es inzwischen lange Wartelisten. Auf eine stationäre Behandlung müssen die Jugendlichen bis zu drei Monate warten, bei der teilstationären Behandlung sind es mehrere Wochen. Daran habe sich nichts geändert, obgleich die Kinder- und Jugendpsychiatrie inzwischen von 40 auf 50 stationäre und teilstationäre Plätze aufgestockt worden sei, sagte eine Sprecherin des Klinikums Stuttgart. Vom neuen Jahr an werden es 60 Plätze sein. Grund für den Ausbau sei die rapide steigende Zahl der jungen Patienten. Im Jahr 2007 seien es noch 289 gewesen, aktuell seien es 332.

An seiner eigenen Schule, der Robert-Koch-Realschule in Vaihingen, versucht Fred Binder, auf die verhaltensauffälligen Kinder zuzugehen. Er macht ihnen keine Vorhaltungen, sondern fragt sie, wie es ihnen geht. Dabei erfahre er oft, dass es Probleme in der Familie gebe. Besonders litten Kinder, wenn die Eltern sich trennten. Vor allem fehle diesen Kindern Zuwendung, oft aber auch eine konsequente Erziehung. "Auch die Eltern dieser Kinder brauchen dringend Unterstützung - das können die Lehrer aber nicht leisten", sagt Fred Binder.

Nach den ersten beiden Stunden geht nichts mehr

Wenn es gar nicht mehr anders geht, nimmt Binder die Kinder eine Zeit lang aus dem Unterricht heraus. In mehreren Fällen würden sie nur noch zeitweise unterrichtet - etwa nur in den ersten beiden Stunden - "danach geht halt nichts mehr". Denn auch die anderen Kinder hätten ein Recht auf Zuwendung des Lehrers und ungestörten Unterricht. "Der überwiegende Teil der Kinder ist nett und gut erzogen", betont der Schulleiter.

Doch seine Pappenheimer - rund 30 der insgesamt 650 Schüler treiben quer - kennt er alle mit Namen. Seine Schule sei aber kein Einzelfall. Die anderen Realschulleiter berichteten Ähnliches. Hinzu komme, dass gerade diese Schulart auch in großer Zahl frustrierte Kinder verkraften müsse, die im Gymnasium gescheitert seien und nach der sechsten, siebten oder achten Klasse in die Realschule wechseln. Dadurch müssten oft die Klassen neu zusammengesetzt werden, was den Klassengemeinschaften nicht zuträglich sei.

Von der Stadt fühlen sich Binder und seine Kollegen allein gelassen. "Ich habe den Eindruck, die Brisanz der Situation wird gar nicht wahrgenommen." Der Ausbauplan für Schulsozialarbeit gehe "nicht auf die Bedürfnisse der Schulen ein", kritisiert er. Insbesondere, dass der Bedarf an Schulsozialarbeit sich an der Zahl der Bonuscard-Kinder orientiere, sei für ihn "nicht nachvollziehbar".

Weitere Sozialarbeiter erst 2014

Dieser Zusammenhang decke sich nicht mit seinen Erfahrungen. Auch dass im übernächsten Haushalt Gymnasien mit mindestens zehn Prozent Bonuscard-Kindern, aber Realschulen erst mit mindestens 15 Prozent Bonuscard-Kindern Schulsozialarbeit erhalten sollen, ist für Binder nicht schlüssig. Ohnehin liegt Stuttgart diesbezüglich landesweit im hinteren Drittel. Aktuell sind in Stuttgart 35 weiterführende Schulen versorgt, darunter 34 Haupt- und Werkrealschulen, sechs Förderschulen und die Schickhardt-Realschule.

Im anstehenden Haushalt 2012/13 sollen die Haupt- und Werkrealschulen weiter aufgestockt und erstmals auch 25 Grundschulen bedacht werden. Weitere Realschulen sowie erstmals auch Gymnasien sollen laut Vorschlag der Stadt erst von 2014/15 an Sozialarbeiter bekommen.