Nach den NSU-Morden wurden alte Akten von Tötungsdelikten auf rechte Motive überprüft: Die Zahl der Opfer erhöht sich auf 75. Dass neun der 17 Opfer in Brandenburg starben, weckt Kritik an den Untersuchungsmethoden.

Berlin - Horst Hennersdorf starb am 5. Juni 1993 auf einem Gartengrundstück in Fürstenwalde. Der 37 Jahre alte Obdachlose wurde von zwei jungen Männern über Stunden in den Oberkörper und ins Gesicht getreten, geschlagen, gedemütigt. Irgendwann atmete er nicht mehr. Kinder fanden den Toten zwei Wochen später. Die beiden Täter wurden zu acht beziehungsweise fünf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht erkannte zwar, dass die beiden Männer Skinheads waren, sah jedoch keinen rechten Tathintergrund.

 

Der Tod wurde zu einer Ziffer in der Kriminalstatistik, Abteilung Kapitalverbrechen. Diese Sicht hat sich nun, 22 Jahre später, nach einer gründlichen Untersuchung geändert – Horst Hennersdorf ist seit kurzem offiziell einer von 18 Menschen, die im Bundesland Brandenburg in der Zeit zwischen 1990 und 2011 zu Opfern rechter Gewalt wurden. Zu diesem Schluss kamen Forscher des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums, die im Auftrag der Landesregierung insgesamt 24 strittige Todesfälle neu untersucht haben. Eine Gruppe von Experten recherchierte in Gerichtsakten, bei Journalisten, in den Chronologien von Opferinitiativen – nach Abschluss der Untersuchung hat sich die Zahl der Opfer rechter Gewalt in dem Bundesland von neun auf 18 glatt verdoppelt.

17 Morde neu bewertet

Die Untersuchung in Brandenburg ist eigentlich Teil einer bundesweiten Überprüfung. Nach der Mordserie der rechten Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) prüften das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter auf Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses 745 so genannte Altfälle auf einen bisher nicht berücksichtigten rechtsextremen Hintergrund oder auf einen möglichen Zusammenhang mit dem NSU. Das Ergebnis ist zwar noch nicht offiziell vorgelegt worden, steckt aber in der Antwort auf eine Parlamentarische Anfrage der Grünen: Demnach stieg die Zahl von bisher 52 Tötungsdelikten mit insgesamt 58 Toten (mit den zehn Morden des NSU) auf 69 Delikte mit 75 Opfern.

Demnach werden also 17 Morde nun als rechte Gewalttaten eingestuft, bei denen bisher kein politisches Motiv gesehen worden war. Auffällig: Allein neun davon ereigneten sich in Brandenburg, die übrigen Nachmeldungen kommen aus Sachsen (3), Sachsen-Anhalt (3), Hessen und Mecklenburg-Vorpommern (jeweils einer). In den anderen zehn Bundesländern ergaben sich keine Neubewertungen. Was auf den ersten Blick so wirkt, als sei in früheren Jahren in Brandenburg besonders schlampig ermittelt worden, zeigt vor allem, dass bei der aktuellen Überprüfung sehr unterschiedlich gearbeitet wurde.

Kritiker bemängeln enge Fragestellung

Als einziges Bundesland gab Brandenburg eine detaillierte Untersuchung extern in Auftrag, die Gerichtsakten und Ermittlungsunterlagen, Erkenntnisse von Opferberatungsstellen und Recherchen von Journalisten bewertete. Auch Sachsen und Sachsen-Anhalt untersuchten eigenständig, aber nicht so detailliert. In den anderen Bundesländern lief die Auswertung über eine Arbeitsgruppe des Gemeinsamen Abwehrzentrums Rechtsextremismus (GAR) des Bundes. An der Methodik regt sich nun Kritik. Aus 3300 möglichen Fällen wurden 745 Fälle mit Verdachtsparametern herausgefiltert, die auf rechte Hintergründe hätten hindeuten können.

Kritiker wie die Grünen-Abgeordnete Monika Lazar stoßen sich an den Kriterien des Kataloges, der dann zur Bewertung der verbleibenden Fälle herangezogen wurde. Gefragt wurde streng nach einem rechtsextremen, verfassungsfeindlichen oder terroristischen Hintergrund oder einem Zusammenhang mit dem NSU – eine Fragestellung, die selbst in der Kriminalstatistik so nicht mehr angewandt wird und die aus Sicht der Kritiker so eng ist, dass man schwer neue Erkenntnisse gewinnen kann. „Ein Fall wie der von Horst Hennersdorf, bei dem sich die menschenverachtenden Wertungen in den Aussagen der Täter vor Gericht finden, wäre bei dieser Fragestellung nicht als Tat nachgemeldet worden“, sagt Anna Brausam von der Amadeu-Antonio-Stiftung. Sie saß als Expertin im Beratungsgremium der Potsdamer Forscher.