Im Eröffnungsgottesdienst zum Reformationsjubiläum in der Stuttgarter Stiftskirche, bei dem auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann mitwirkte, gehen die Landesbischöfe aus Baden und Württemberg auf das maßlose Verhalten der Menschen ein.

Stuttgart - Beim Festgottesdienst zum Reformationstag predigten die beiden Landesbischöfe Cornelius-Bundschuh (Baden) und Frank Otfried July (Württemberg) in der Stuttgarter Stiftskirche zu den Themen Menschen- und Gottesfurcht. Gemeint war damit allerdings eine Kritik an alle Despoten dieser Welt sowie an diejenigen in der Gesellschaft, die in ihrem Verhalten jegliches Maß gegenüber ihren Mitmenschen und der Natur verloren haben.

 

„Wenn wir heute nicht in einem feierlichen Reformationsgottesdienst wären, sondern in einem Bibel-Workshop, dann wäre es interessant, von einem jeden und einer jeder von Ihnen zu hören oder aufgeschrieben zu bekommen: Was ist Gottesfurcht? Wie unterscheidet sie sich von Menschenfurcht?“, fragte July zum Beginn seiner Predigt, um gleich die Antwort mitzuliefern: „Die Furcht vor den Menschen ist eine Form der Angst, die Gottesfurcht eine Form der Liebe. Und beides ist so weit voneinander entfernt wie die Erde vom Himmel.“

Mit Gottesfurcht zurück zum Glauben

Martin Luther habe sich in der Angst vor Gott wiedergefunden. In seinen Geboten sei Gott Luther mit Forderungen entgegen, die er nicht erfüllen konnte. Daher habe Luther am Ende seiner Zeit als Mönch diesen Gott gehasst. „Es war eine überwältigende Erfahrung der Liebe Gottes, die seine Angst auflöste und mit ihr seinen Gotteshass“, sagte July und spielte damit auf die Reformation und das Jubiläum an: „Die Reformation als Bewegung hat ihren Ursprung in der Umkehr eines Menschen – weg von der Angst vor Gott hin zu Gottesfurcht, Liebe und Vertrauen.“

Aber was hat das mit der heutigen Zeit und Gesellschaft zu tun? Die Frage dürften sich auch die anwesende Riege der Politiker aus Stadt, Land und Bund gestellt haben. Allen voran Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der die Schriftlesung hielt. Beim Thema Menschenfurcht stellte Bischof Bundschuh den Bezug durch den von Nazis ermordeten Pfarrer Dietrich Bonhoeffer her. Dessen Satz „Wer die Menschen noch fürchtet, der fürchtet Gott nicht. Wer Gott fürchtet, der fürchtet die Menschen nicht mehr“ solle Menschen frei machen, auch heute gegen nationalistische und fremdenfeindliche Strömungen aufzustehen. Denn Gottesfurcht, das weiß July nur zu gut, ist kein Prinzip in einem säkularen Staat. „Da ist man froh, wenn die Verfassungsordnung geachtet wird und die Gesetze befolgt werden. Wenn der gesellschaftliche Friede eingehalten wird“, sagte der evangelische Landesbischof: „Aber es ist gut, wenn Menschen in diesem Land Gottesfurcht haben: Wenn sie wissen: Jeder andere Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Wenn sie wissen, dass sie von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht schaffen können. Wenn sie verstehen, dass sie Verantwortung für die kommenden Generationen tragen.“

Diktatoren im Irrglauben

Aus diesem Grund ist Frank Otfried July froh, dass in der Landesverfassung Artikel 12 auch in Zukunft erhalten bleibt und gepflegt wird. Dort steht: „Die Jugend ist vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe (…) zu erziehen.“ July: „Denn Gottesfurcht in dieser Welt begrenzt menschliche Machtphantasien. Sie bedeutet, dass all die Diktatoren und Machthaber dieser Welt in dem Irrglauben bewahrt werden, sich selbst an die Stelle Gottes setzen zu wollen.“ Gottesfurcht sei in diesem Kontext der Maßstab, der das richtige Unterscheiden lehrt. Oder wie Luther es gesagt hat: „Wir sollen Menschen sein und nicht Gott. Das ist die summa.“ Anders ausgedrückt: Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge.