René Pollesch erkundet in seinem neuen Stück „Die Revolver der Überschüsse“ die Fremdbestimmtheit unserer Gefühle. Auf der großen Bühne des Nord entfesselt er den ganzen Zauber seiner theoriegesättigten Theaterkunst.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Ja, jetzt geht alles bestürzend schnell. Nachdem das Land und sein Finanzministerium beschlossen haben, mit der Sanierung eines Theaters überfordert zu sein und darum der Einfachheit halber das Stuttgarter Staatsschauspiel mit seinem Intendanten Hasko Weber und dem ganzen Ensemble einfach vorzeitig vor die Tür zu setzen, kommen auf die Zuschauer viel früher als erwartet lauter „letzte Male“ zu. So am vergangenen Freitag: die „letzte große Premiere“, also auf der großen Bühne der Ersatzspielstätte Nord, „Die Revolver der Überschüsse“ von René Pollesch.

 

Traurig.

Was das Premierenpublikum dann aber in knapp anderthalb Stunden zu sehen bekommt, strotzt nur so vor Vitalität, Spiellust, Gedankenreichtum, Witz, Finesse, Angriffslust und Selbstironie. Es ist kein perfekter Theaterabend, weil wohl nichts einem Regisseur wie René Pollesch mehr widerstrebt als die Vorstellung, perfekte Theaterabende abzuliefern. Aber zu jedem Zeitpunkt wird messerscharf klar, wozu das Theater dient, wenn man es denn von verantwortlicher Stelle lässt: den Zuschauern einen Blick auf sich selbst, das Leben und die Welt zu verschaffen, der ihn überrascht und zu was auch immer anregt.

Großer Beifall.

Ein Wasserfall an Schlagworten und Ideen

Es ist die neunte Pollesch-Inszenierung, die das Stuttgarter Publikum zu sehen bekommt, und sie ist in vielerlei Beziehung exakt so wie die acht Male davor: Das Bühnenbild ist schon mal eine Schau für sich, höchst vielfältig und aufwendig. Was die vier Spieler aber auch diesmal nicht daran hindert, sich darin häufig ganz hinten in irgendwelchen verborgenen Ecken zu verkriechen, weswegen wir sie minutenlang nur dank eines Livekamerateams auf vorderen Projektionsflächen erleben dürfen. Immer mit dabei ist selbstverständlich die Souffleuse, auch diesmal wird wieder ganz viel, ganz schnell und kompliziert geredet, weswegen man als Schauspieler schnell einmal den Textanschluss verlieren kann.

Ja, es wird auch in diesem Pollesch wieder geredet und getönt wie aus tausend Rohren. Sätze, die schlau klingen, Sätze, die verwirrend klingen, Sätze, die banal klingen. Es ist erneut ein wahrer Wasserfall an Schlagworten, Ideen, Zuspitzungen und vermutlich gewollten Unklarheiten. Und was genau jeder einzelne dieser Sätze zu bedeuten hat und wie das Ganze zusammenhängt mit dem Titel des Abends (zur Erinnerung: „Die Revolver der Überschüsse“, nicht gerade das griffigste Bild), das weiß sich hernach auch der Kritiker keineswegs umfassend zu erklären.

Diskurs über die letzten Fragen unserer Existenz

Aber womöglich ist gerade dies der wichtigste Rat für den Zuschauer einer Pollesch-Inszenierung: Setz doch mal in deinem Kopf für einige Zeit die Schwerdenk- und Erklärungsmaschine außer Betrieb; mach dich, so krude das auch klingen mag, intellektuell ein bisschen nackig; genieß bewusst ganz simpel gestrickt das Spektakel, das sich hier vor deinen Augen und Ohren abspielt; lach über die vielen kleinen Skurrilitäten und Absurditäten, die da geboten werden; und plötzlich stellst du ganz perplex fest, wie tief dich diese Truppe in ihren ulkigen Kostümen dort auf der Bühne schon wieder verstrickt hat in ihren seltsam aufgeregten und dennoch so authentisch wirkenden Diskurs über die vorletzten und die letzten Fragen unserer Existenz.

Es geht bei diesem Pollesch übrigens um die Liebe. Es geht darum, dass wir uns in dieser globalisierten und durch und durch vermarkteten Welt ja allenthalben fremdbestimmt fühlen. Nur im Bereich der Liebe wähnen wir uns erstaunlich frei und selbstbestimmt. Ganz wichtig sind uns hier die Stimme und der daraus womöglich folgende Ruf unseres Herzens. Ihnen folgen wir mit Schwung und Selbstbewusstsein und beenden umgehend die eine Beziehung, um irgendeine bessere zu beginnen. Und ausgerechnet der Autonomie-Pollesch und seine Schauspieler sagen jetzt in Stuttgart: Dieses ewige Beziehungs-Hin-und-Her ist doch auch wieder nur so eine gesellschaftliche Fremdbestimmung. Die Diktatur der Chronologie. Das wesentliche Merkmal jeder eigentlich entmenschlichten Utopie. Erst kam die, dann kam der, dann wieder die, nun sind’s wir. Schatz! Mein Schatz!

Theorie als Mittel zum Zweck

Das Bild, das Pollesch mit seinen Schauspielern für dieses Thema findet, ist das Theater selbst mit seinem ewigen Vorführen von Rollen und scheinbar dramatischen und doch so urbanalen Veränderungen, ist die Drehbühne (die ja bekanntlich anders als im womöglich ewig vom Finanzministerium zu renovierenden Schauspielhaus hier in der Spielstätte Nord problemlos funktioniert). Janina Audicks irgendwie vom Futurismus und von den zwanziger Jahren inspiriertes Wimmel-Bühnenbild aus vielen Gebäudeteilen mit lauter verwegenen Spitzen, Triolen und Diagonalen rollt immer wieder an uns vorbei, verheißt uns Wechsel und Veränderung, Fluss des Lebens und der Gezeiten – obwohl ja letztlich immer alles nur gleich bleibt und wiederkehrt. Allein für diese Idee, dieses Bild lohnt sich schon der ganze Abend. Und es ist vielleicht gerade mal zehn Prozent von dem, was sonst noch so geboten wird.

Denn da sind natürlich diese vier wunderbaren Schauspieler, die uns von der ersten Minute an mitreißen, die uns in jedem Augenblick klarmachen, dass sie es mit jedem ihrer Worte und ihrer Aktionen wirklich ernst meinen, dass wir sie bei alledem aber bitte schön auch nicht immer nur ernst nehmen dürfen. Silja Bächli und Christian Brey sind ja seit „Smarthouse“ im Jahr 2001 Stuttgarter Pollesch-Spieler der ersten Stunde. Inga Busch und Lilly Marie Tschörtner treffen aber auch jederzeit diesen Tonfall, der einerseits immer ein wenig überdreht ist und der andererseits doch viel aufrichtiger klingt als jener auch in Stuttgarter Inszenierungen gern einmal gepflegte Wut- und Donnerhall der von Untergangsfantasien blutbodenschwer getränkten Publikumsbelehrungskunst.

Das Pollesch-Theater ist ein gutes Zeichen

Das ist womöglich ja auch die wichtigste Botschaft dieses Abends und dieses Regisseurs und seines speziellen Theaters: So kompliziert all die Gedanken, die wir hier hören, auch klingen mögen – und manches klingt wirklich so verquast, wie man es heutzutage wirklich ansonsten nur noch ab und an bei Suhrkamp und im FAZ-Feuilleton findet –, sie ringen bei aller Komplexität doch um Nähe zum Leben. Zum Leben! Hier ist Theorie wirklich noch Mittel zum Zweck! Und sie machen jederzeit deutlich, dass dieses Ringen letztlich nur im Versuch, im Spiel, in der Assoziation, im Experiment zum Erfolg führen kann. Das Pollesch-Theater als Ganzes ist so auch ein Zeichen. Ein gutes Zeichen.

Übrigens: an Pollesch-Abenden werden die zentralen Pollesch-Schauspielersätze immer drei- bis viermal wiederholt. Hat das nicht etwas Beruhigendes? Wie auf einer Drehbühne kommen sie immer wieder vorbei. Also immer schön entspannt bleiben. Gerade beim „Revolver der Überschüsse“.