Während die einen Parteien ihre Wunden lecken, nutzt Renate Künast den Rückenwind aus Baden-Württemberg - um Klaus Wowereit abzulösen.

Berlin - Renate Künast steht mitten im Weinberg und bohrt mit der Spitze ihres blank polierten schwarzen Westernstiefels unter einem Weinstock im Dreck. Die Hand hat sie an einen Trieb gelegt: "Die muss man streng beschneiden", sagt sie. "Sonst gibt es keine Ernte."

 

Die Erde ist trocken und sandig, die wenigen Reben schlafen noch in der ersten Frühlingssonne. Und ein richtiger Berg ist das eigentlich auch nicht. Eher ein aufgeschütteter Hügel, gehalten von einer Trockenmauer aus rauem, nordostdeutschem Feldstein. Aber das hier ist eben nicht Baden-Württemberg, wo die Triebe im Wengert in diesen Tagen schon ausschlagen, und wo im Landtag im Talkessel bald zum ersten Mal in der Geschichte der Republik ein Grüner zum Ministerpräsidenten gewählt werden wird.

Das hier ist Berlin, Renate Künasts Pflaster. Hier hofft die Grüne im Herbst auf ihre ganz persönliche Ernte: Sie will ins Rote Rathaus einziehen, den Amtsinhaber Klaus Wowereit verdrängen und seine SPD allenfalls als Juniorpartner akzeptieren.

Die Zeitenwende von Stuttgart ist erst ein paar Tage her: Das Unmögliche ist möglich geworden, und das auch noch an einem Ort, der für Unmöglichkeiten wesentlich weniger berühmt ist als die Hauptstadt. Solch eine politische Beweislage muss man für den Wahlkampf ausnutzen.

Alles Gute kommt von unten

Also stapft Renate Künast an diesem Morgen energischen Schrittes durch das kleine Stück Stadtnatur, stets gefolgt von einem Pulk Fotografen. Alles an der Kandidatin zeugt von professioneller Sorgfalt: Auf dem Gesicht liegt eine dezente Schicht helles Make-up, die Lippen sind rosenholzfarben geschminkt und passen zum Schal, sogar die kurz gefeilten Fingernägel wurden frisch lackiert - und folgen einem auberginefarbenen Trend.

Wenn Künast Norbert Winkler zuhört, einem Mann mittleren Alters mit grauem Bart, dann versucht sie das Kunststück, sich gleichzeitig zu konzentrieren und blinzelfrei fürs Foto ins Gegenlicht hinein zu posieren. Das schafft sie ganz gut, auch wenn der Gesprächpartner, der von Sparzwängen spricht und von Personalmangel, manchmal auf jegliche Reaktion verzichten muss. Winkler ist der Leiter der Gartenarbeitsschule, zu der der Weinberg gehört. Der liegt eingerahmt von Autobahnarmen und Möbelhausklötzen mitten in der Millionenstadt im Bezirk Schöneberg. Etwa 20.000 Kinder im Jahr kommen hierher - Grundschulkinder, die oft nicht wissen, dass Zwiebeln nicht geröstet und getrocknet aus der Tüte kommen, sondern in der Erde wachsen. Hier lernen sie es. Alles Gute kommt von unten. Besser könnte man einen Ort für einen grünen Wahlkampftermin nicht aussuchen.

"Es ist doch schön", sagt Renate Künast, "wenn Kinder lernen, dass aus einem ganz kleinen Pflänzchen ein sehr großer Salatkopf werden kann." Dabei breitet sie beide Arme aus, als wollte sie demnächst eigenhändig die Weltkugel transportieren. Die Frau weiß, wovon sie spricht. Es ist noch nicht lange so, dass ihre Partei zu einem gigantischen Wachstum ansetzte. Eine grüne Spitzenkandidatur für ein Regierungsamt? Das war sehr lange mehr Ehrensache als irgendwas sonst.


Aber dann kam der Herbst 2010 mit seinen Wutbürgern und trieb die Umfragen in die Höhe - in Baden-Württemberg, im Bund und auch im Arm-aber-sexy-Berlin des omnipopulären Klaus Wowereit. Auf einmal sah sich die SPD des Amtsinhabers erst gleichauf mit den Grünen und dann hinterherhinken: Im Oktober lagen die Sozialdemokraten bei 26 Prozent und die Grünen bei 30.

Schon längst wurde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr darüber geredet, ob ein grüner Regierender Bürgermeister tatsächlich möglich ist, sondern darüber, wer das sein könnte. Natürlich fiel Künasts Name - sie ist schließlich die bekannteste breit vermittelbare Frontperson der Partei in Berlin. Nur Künast selbst, die schwieg.

"Ich will dieser Stadt auch etwas zurückgeben"

Es gab dafür natürlich Gründe: da war zum Beispiel das schwarz-gelbe Bündnis im Bund, das im Herbst etwas wacklig wirkte, so dass man als grüne Fraktionsvorsitzende mit Ambitionen im Bund vielleicht lieber nicht den Finger fürs Rote Rathaus hebt. Und bestimmt hatte - und hat - die Realistin Künast auch Zweifel, ob aus dem Umfragehoch jemals ein realistisches Wahlergebnis werden könnte. Und ob eine Kandidatur vielleicht nie mehr wäre als ein Opfer. Künast jedenfalls schwieg so lange, dass irgendwann der Moment kam, in dem alle dachten: nicht antreten geht eigentlich nun auch nicht mehr.

Gab es denn für sie selbst einen Moment, in dem sie wusste, sie will wirklich Regierende Bürgermeisterin werden? Künast antwortet nicht direkt. "Kennen Sie das, dass Sie an Brücken stehen?", sagt sie und malt mit grade ausgestreckten Händen eine lange Bahn in die Luft. Sie sitzt in ihrem Büro direkt neben dem Reichstag, unterm halb geöffneten Fenster tuckert ein Touristenbus. Auf einem kleinen Couchtisch steht frisch gebrauter grüner Tee, sicher ein guter Vorsatz, aber die Kandidatin kommt gar nicht zum Trinken. Es ist ihr wichtig, dass eines jetzt klar wird: Sie will wirklich über diese Brücke gehen. "Ich will dieser Stadt auch etwas zurückgeben", sagt sie. Es dürfe doch nicht sein, "dass Berlin weiter unter seinen Möglichkeiten bleibt".


Wegen Künasts kodderiger Schnellsprecherinnenart halten nicht wenige sie für eine Eingeborene. Aber es ist eigentlich eine langsam gewachsene Liebe: "Wie viele bin ich halt damals nach Berlin gezogen und dachte, das ist für ein paar Jahre. Und dann fing ich eben so allmählich Feuer." Aufgewachsen ist Künast in Recklinghausen, der Vater war Kfz-Schlosser, ein strenger Mann, die Mutter Hilfskrankenschwester. Der Horizont im Elternhaus war offensichtlich nicht sehr weit. Sein können, wer und was immer man möchte, die eigenen Möglichkeiten entdecken? "Ermutigung gab es bei uns zu Hause nicht. Die musste man sich schon anderswo holen", hat Künast einmal der "Zeit" erzählt.

Berlin, das war damals vielleicht noch mehr als heute ein Ort, an den man ging, wenn man sich selbst genug Mut gemacht hatte, jemand anderes werden zu können: Künast kam nach Realschulabschluss und Fachhochschulstudium der Sozialarbeit her und arbeitete mit Junkies im Gefängnis Tegel. Sie studierte Jura, und trat Ende der 70er Jahre der Alternativen Liste bei. Es ist sicher auch die eigene biografische Erfahrung, die Künasts Motor für ihr politisches Engagement geworden ist: "Mich treibt die Idee an, Leute zu befähigen, selbst loszugehen."

Wowereit hat noch immer die Beliebtheit eines Sonnenkönigs

Stoppelhaare, Lederjacke, Mundwerk - so wurde Künast als politische Figur der Berliner Fundi-Grünen bekannt. In der rot-grünen Westberliner Koalition Walter Mompers war sie 1989 Fraktionsvorsitzende, das Bündnis platzte damals wegen der Räumung eines besetzten Hauses.

Inzwischen ist Renate Künast 55 Jahre alt, trägt statt Lederjacke einen hanseatisch blauen Anzug und eine olivengroße, goldgefasste Perle am Hals. Seit sechs Jahren ist sie Fraktionschefin im Bundestag, noch wichtiger für das politische Bild, das viele Menschen von ihr haben, ist ihre Zeit als Bundesverbraucherschutzministerin unter Gerhard Schröder. Sie stieg ein auf dem Höhepunkt der BSE-Krise, sie machte aus einem der Nahrungsmittellobby verpflichteten Haus ein Ministerium für die Verbraucher, sie erreichte in kurzer Zeit einen Politikwechsel, von dem sich bis heute auch der politische Gegner nicht komplett verabschieden konnte. Sie bewies, dass sie es vermag, Dinge zu verändern. Auch wenn in ihrem Umfeld manche unter harschen Tönen stöhnen, bleibt doch: Die Frau kann Chefin.

Die SPD weiß das, und sie weiß auch, dass dieser manchmal besserwisserische Ton, dieser strenge Zug der Renate Künast die Chance für Wowereit ist, der auch nach zwei Legislaturperioden noch die Beliebtheitswerte eines demokratischen Sonnenkönigs hat: Hat der Wähler zwischen zwei Parteien zu entscheiden, die inhaltlich nicht enorm weit auseinander liegen, wird er vielleicht schlicht dem für viele sympathischeren, souveräner wirkenden Kandidaten seine Stimme geben.


Was die beiden persönlich unterscheidet, ließ sich im Januar sehr einfach bei der Fashion Week bewundern: Künast besuchte, wie schon zuvor, die grüne Modemesse am Rande des Geschehens zu einer Podiumsdiskussion. Wowereit posierte gemeinsam mit der "Vogue"-Chefredakteurin bei der exklusiven Fashion-Night im Promirestaurant Borchardt.

Auch Renate Künast hat, wie die SPD, keine andere Chance, als den Unterschied zur Angriffsfläche zu machen. Denn aus ihrer Haut kann sie nicht: "Ich bin eben nicht die Bussi-Bussi-Frau. Ich bin lieber authentisch und gehe auf meine Weise auf die Menschen zu", sagt sie mit ziemlicher Verve in der Stimme. Sie hat sich entschieden, Wowereit in seiner von ihr ausgemachten Eigenschaft als Partylöwe anzugehen. "Er regiert nicht, er entscheidet nicht." In ihrer Antrittsrede im November warf sie ihm ein zynisches Sicheinrichten mit den Unzulänglichkeiten der Stadt vor: "Kinder wachsen heran, die den Anschluss verlieren. Langzeitarbeitslosen wird keine Perspektive gegeben. Die Menschen erleben eine blockierte Stadt und warten auf einen Aufbruch. Es ist unsere Stadt, und wir wollen sie nicht herumdümpeln lassen."

Im für sie günstigsten Fall wird es ihr gelingen, eine Wechselstimmung zu erzeugen - nach zwei Legislaturperioden ist die Chance da. Auch ein grün-schwarzes Bündnis schließt die Kandidatin nicht aus - wobei es im Ernstfall spannend sein dürfte zu beobachten, wie Künast dies ihrer Berliner Basis schmackhaft machen will.

Wirklich mit beiden Beinen auf dem Berliner Boden?

Wowereit weiß natürlich, dass er diese Gegnerin nicht einfach weglächeln kann. Noch nie in seiner Karriere musste er einen Mitbewerber so ernst nehmen. Er tut das bisher auf Amtsinhaberweise: mit der größtmöglichen öffentlichen Umarmung und der kleinstmöglichen Beachtung. Er freue sich über die Kandidatin, sagt er immer wieder. Um gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass die Grünen in Umfragen seit dem Zeitpunkt der Kandidatur abrutschen. Das stimmt. Kaum war Künast angetreten, irritierte sie die Wähler und vor allem die eigene Basis mit Vorschlägen für stadtweites Tempo 30 sowie die Abschaffung des Gymnasiums und mit einem Exkurs darüber, ob Berlin wirklich einen internationalen Flughafen brauche. Das wirkte nicht, als sei die Kandidatin aus dem Bund mit beiden Beinen auf dem Berliner Boden geblieben.

Das Gegenteil kann man nur in der Ebene beweisen. Von der Gartenbauschule ist der Tross nun weitergezogen in eine Grundschule im Süden der Stadt. Künast lässt sich Klassenräume zeigen, in denen es durch die Decke regnet, einen Naturwissenschaftsraum, für den es keinen Lehrer gibt, eine Mensa, in der zu wenige Kinder essen, weil die Eltern es sich nicht leisten können. Sie hört zu. Sie verspricht nichts, außer dass sie es anders machen will.