Vor 200 Jahren bricht auf der Insel Java in Indonesien der Vulkan Tambora aus. Im Frühjahr und Sommer 1816 regnet es quasi ununterbrochen. Die Ernte fällt mager aus. Viele Renninger und Malmsheimer fliehen aus Hungersnot.

Renningen - Wenn Dinkel, Weizen und Mais demnächst wieder ihr erntereifes Gelb überstreifen und sich bereit machen, in die eifrigen Erntemaschinen und hungrigen Mägen zu wandern, dann tun sie das so wie jedes Jahr eben. Oder: wie fast jedes Jahr, denn vor genau 200 Jahren, da war gar nichts saftig-gelb, sondern trüb und nass. Und das Schlagwort des Jahres lautet: „Hunger“.

 

Ein gewaltiger Vulkanausbruch in Südostasien im Jahr 1816 hinterlässt selbst im weit entfernten Renningen noch tiefe Spuren. Die einfachen Leute trifft das hart. Denn schon all die Jahre zuvor hatten sie wenig zu essen, seit etwa 1812 ist es immer kälter geworden, Kartoffeln und Getreide wurden immer weniger, der Hunger immer größer. Ein weiteres Schlagwort, das den Menschen als eine Rettung in der großen Not am Horizont erscheint, klingt für sie damals ebenso fremd wie verheißungsvoll: „America“.

„Ferner will nach America auswandern Johann Michael Zipperle“, lautet eine kurze Notiz, die sich noch heute, genau 200 Jahre später, unter den vielen geheimnisvollen Unterlagen des Renninger Stadtarchivs befindet. Sie entstammt dem dicken Protokollbuch des hochamtlichen Gemeinderats. Dieses Gremium sitzt in seiner Malmsheimer Rathaus-Stube und wartet auf alle hungrigen Mäuler, die es in ihrer Verzweiflung ans andere Ende des großen Wassers, ins ferne Amerika zieht.

Viele, viele Fragen

Denn dort müssen alle vorsprechen, ihr Anliegen vortragen und sich das amtliche Auswanderungsgesuch abholen: Na, was wollen Sie? Auswandern? Haben Sie einen Bürgen? Die Herren Gemeinderäte haben einige Fragen, die die Auswanderungswilligen zufriedenstellend beantworten mussten. Der Bürge oder Comisär war dazu da, etwaige Forderungen nach der Ausreise des Auswanderers zu begleichen.

Ja, klar, dürfte der Malmsheimer Webermeister Johann Michael Zipperle damals geantwortet haben, denn in dem dicken Protokollschinken ist zu lesen: „Ferner will nach America auswandern Johann Michael Zipperle, Weber mit Frau und 3 Kindern, welcher zu seinem Comisär bestellt seinen Bruder Joh. Jakob Zipperle, Bauer.“ Die Zipperles sind im Hunger-Sommer 1816 bei weitem nicht die einzigen Renninger, die das Exotische suchen. Etwa 1500 Einwohner zählt das Rankbachdorf damals, und 78 Auswanderer sind in den Unterlagen des Hauptstaatsarchivs Stuttgart belegt.

Mathias Graner, der Stadtarchivar in Renningen, geht aber von einer großen Dunkelziffer aus. „Weitere Quellen kommen für Renningen auf 350 Personen“, sagt er. Noch dramatischer sieht die Lage in dem kleinen Nachbardorf Malmsheim aus. Hier schätzt Mathias Graner ebenfalls 350 Auswanderer – und das bei nur 800 Einwohnern. Nicht alle zieht es gleich über den ganz großen Teich. Auswanderungslisten des Oberamtes Leonberg ergeben, dass es etwa 40 Prozent in den Osten, also nach Russland, Kaukasien, Kasachstan oder Ungarn zieht. Überraschend viele emigrieren auch in die benachbarte Schweiz oder nach Frankreich – wo die Hungersnot aber mindestens so groß gewesen sein dürfte wie hier in ihrer alten Heimat.

Der große Traum heißt USA

Ein Viertel der Auswanderer aber wagen den großen Schritt. USA heißen die drei Buchstaben ihrer Träume, so, wie auch bei der Familie Zipperle aus Malmsheim. „Verzicht des Bürger- und Unterthanen-Rechts des Johann Zipperle, Webers, und seiner Ehefrau, Christina, einer geb. Arnoldin“, heißt es an anderer Stelle im Renninger Stadtarchiv. In der Sammlung der „Bürgerrechtsverzichtsurkunden“ nämlich – denn auf ihr Bürgerrecht müssen im Württemberg des 19. Jahrhundert alle verzichten, die einen Ausreiseantrag stellen.

Die ganze Familie Zipperle ist dort verzeichnet, also die Eltern, „nebst ihren 3 Kindern“. Vor allen Stadträten müssen die Eltern also ausführen: „Ich Johann Michael Zipperle, bisheriger Bürger und Weber zu Malmsheim, Königr. Württemberg, Oberamts Leonberg, und ich dessen Ehefrau Christina, eine geborene Arnoldin, mit unseren eheleiblichen Kindern: Johann Michael, 16 Jahre alt, Johannes, 10 Jahre alt, Christina Magdalena, 5 Jahre alt, urkunden und bekennen hiermit für uns, und unsere Erben und Nachkommen, daß, nachdem wir die allerhöchste Erlaubniß zur Auswanderung in fremde Lande erhalten haben, wir dagegen unser bisher zu Malmsheim gehabtes Bürgerrecht, und somit überhaupt unser bisheriges Unterthanenrecht im Königreich Württemberg, aus freiem Willen wissentlich und wohlbedächtlich aufgesagt und gänzlich aufgegeben haben.“

Dass die Zipperles nur vor ihren Ratsherren in Malmsheim vortragen müssen, ist ihr Glück, erklärt Stadtarchivar Mathias Graner, als er die dicken Verzichtsurkunden durchblättert. „Die Obrigkeit in Stuttgart sah es natürlich gar nicht gern, wenn die Menschen auswanderten und sie dadurch Untertanen verloren“, erklärt er. Die Stadtherren vor Ort dagegen sehen es umso lieber, sind die Ausreisenden doch zumeist ärmere Leute, die den Kommunen auf der Tasche liegen. „Bei ganz armen Auswanderern übernahm die Gemeinde Renningen sogar die Überfahrtskosten sowie Ausrüstung und eine erste Unterstützung auf amerikanischem Boden“, sagt Mathias Graner. 10 000 Gulden sind dafür in den Renninger Haushaltsplänen der Jahre 1852 bis 1854 verzeichnet.