Niedliche Rentiere vor den Augen von Kindern schlachten: Darf man das? Der Ausflug eines norwegischen Kindergartens zu einer Rentierfarm hat bei Facebook einen Proteststurm ausgelöst. Der Stuttgarter Kinderpsychiater Michael Günter sagt, was er davon hält.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - So geht Kindererziehung in Norwegen: Der Ausflug des norwegischen Kindergartens Granstubben Barnehage zu einer Rentierschlachtung hat auf Facebook helle Empörung ausgelöst. Besser gesagt: Eine veritablen digitalen Orkan #RentierMassaker #Shitstorm. Die Bilder, die die Kita-Mitarbeiter aus Henning bei Trondheim ins Netz gestellt haben, sind in der Tat an Expressivität kaum zu überbieten. Man sieht auf den Fotos Kinder, die blutige Rentierfelle durch den Schnee schleifen und die Köpfe der Tiere in hohem Bogen in einen Abfallcontainer schmeißen.

 

Wir sprachen mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Professor Michael Günter, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Klinikum Stuttgart, über den konkreten Fall und die Auswirkungen solcher realistischen Bilder auf die Psyche von Heranwachsenden.

„Ehrlich gesagt, ich musste ein wenig schmunzeln über die Reaktionen“

Michael Günter. Foto: Klinikum Stuttgart
Herr Professor Günter, der Granstubben-Kindergarten in Nordnorwegen hat einen Ausflug gemacht. Die Kinder haben bei einer Schlachtung von 40 Rentieren zugeschaut und durften hinterher bei der Entsorgung der Kadaver helfen. Auf Facebook hat das Shitstorm ausgelöst. Was halten Sie als Kinderpsychiater davon?
Ich habe mich schon vor unserem Interview über diesen Fall informiert. Ehrlich gesagt, ich musste ein wenig schmunzeln über die Reaktionen. Wir sind in Deutschland heutzutage sehr empfindlich geworden. Es gibt viele Leute, die sagen: Wir wollen das nicht, Fleisch essen. Wir leben vegan. Wir wollen nicht, dass Tiere aufgezogen werden, nur um sie später zu töten und zu essen.
Das ist die eine, vegane Seite. Aber es gibt auch andere, die sich auf ihr Rentier-Steak freuen.
Und diese Seite erklärt: Na ja, das essen von Fleisch gehört zu unserem Leben und unserer Kultur. Und in Nord-Norwegen gehört die Rentierzucht und Schlachtung zur Kultur der Samen. Die Kinder sollen ruhig mitkriegen, was zu ihrer Kultur gehört. Ich finde, darüber kann und sollte man kontrovers diskutieren. Und das bedeutet dann auch, dass es legitim ist, dass Kinder so etwas mitbekommen.
Bei dieser Aussage würde mancher Tierfreund einem am liebsten ans Fell gehen.
Man sollte allerdings die Kinder vorher fragen, ob sie zur Schlachtung mit wollen oder nicht. Wenn Kinder das nicht wollen, muss man das auch respektieren.
Sie weisen auf die kulturellen Aspekte hin. Was in Nord-Norwegen üblich ist, muss in Deutschland noch lange nicht genauso gelten. Würden Sie Kinder aus Baden-Württemberg ins Stuttgarter Schlachthaus mitnehmen?
In Stuttgart wissen viele Kinder gar nicht mehr, woher die Milch kommt. Viele denken sie kommt aus der Fabrik. Da ist eine Entfremdung von bestimmten Lebensbereichen eingetreten, zum Beispiel wie Lebensmittel entstehen und produziert werden. Ins Schlachthaus würde ich allerdings Kindergartenkinder nicht unbedingt mitnehmen.

„Ich habe keine große Lust ins Schlachthaus zu gehen und mir das anzugucken“

Die Rentiere wurden allerdings nicht im Schlachthaus getötet, sondern in einem Gatter auf freiem Feld. Es war also keine Massentierhaltung, sondern eine naturnahe Haltung und ein „natürliches“ Ende.
Ich habe auch keine große Lust ins Schlachthaus zu gehen und mir das anzugucken. Generell gilt: Man sollte so etwas wie eine Schlachtung oder andere drastischen Dinge bei Kindern mit einem gewissen Fingerspitzengefühl und einer gewissen Vorsicht angehen. Ich würde, wie gesagt, keine Kinder mit ins Schlachthaus nehmen. Aber wenn irgendwo ein Huhn geschlachtet wird, könnten sich Kinder das durchaus angucken, wenn sie vorher gefragt werden. Darin sehe ich kein Problem.
Die Kommentare auf Facebook sind auf Deutsch. Dass heißt die Reaktionen kommen aus Deutschland und nicht aus Norwegen. Die Norweger haben sich offenbar gar nicht aufgeregt, sondern die Deutschen.
Und das überwiegend negativ. Ich habe als Kind auch mitgekriegt, wie Verwandte auf einem Bauernhof geschlachtet haben und Hühner ohne Kopf rumgelaufen sind. Heute hat sich in der Einstellung etwas Grundlegendes verändert. Man will nicht mehr wahrnehmen, dass Tiere getötet werden, damit man sie essen kann. Es gibt große Gruppen in der Bevölkerung, die sehr empfindlich oder man könnte auch sagen extrem bewusst geworden sind.

„Viele wollen die Realität nicht mehr zur Kenntnis nehmen“

Das hört sich an, als ob Sie diesen Bewusstseinswandel aus eigener Erfahrung kennen.
Ich habe drei Töchter, zwei davon sind Veganerinnen. Die erzählen mir, dass es gar nicht geht, dass man männliche Küken schreddert. Die Kritik ist völlig berechtigt, das ist erschreckend. Doch welche Konsequenz zieht man daraus? Kein Hähnchenfleisch mehr essen? Außer es kommt aus einer biologischen Produktion?
Wir essen Fleisch, wollen aber nicht wissen, wie es auf den Teller kommt? Ist diese Einstellung nicht geradezu pervers?
Ich würde nicht das Wort pervers verwenden. Ich würde vielmehr sagen: Viele wollen die Realität nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Auf bestimmte Dinge wie die Frage, woher kommt unser Essen, reagieren sie mit Wegschauen. Auch deshalb ist die vegane Ernährung so attraktiv.

„Ich glaube nicht, dass das den Kindern schadet, wenn sie so etwas angucken“

Ihr Fazit: Arme nordnorwegische Kinder oder arme vegane Kinder?
Man darf in all diesen Fragen nicht pauschalieren. Ich glaube allerdings nicht, dass das den Kindern schadet, wenn sie so etwas angucken.
Welchen Kindern?
. . . den norwegischen wie den deutschen Kindern.

Zur Person: Michael Günter

Geboren 1957

Studium der Medizin, Kunstgeschichte und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen und Wien

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und für Psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker für Erwachsene, Kinder- und Jugendliche, Lehranalytiker (DPV/IPA)

Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Klinikum Stuttgart

Herausgeber der Zeitschrift Kinderanalyse. Autor und Herausgeber mehrerer Bücher und zahlreicher Artikel. Arbeitsschwerpunkte: Adoleszenz, Psychoanalytische Sozialarbeit, Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter.

Adresse: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Stuttgart, Prießnitzweg 24, 70374 Stuttgart, E-Mail: m.guenter@klinikum-stuttgart.de