Auf der Peschmerga-Armee ruht die Hoffnung der westlichen Welt, die Terrormiliz IS zu stoppen. Eine Reportage aus Qwer, südöstlich von der nordirakisch-kurdischen Provinzhauptstadt Erbil.

Qwer - Die Totenstille dauert nur wenige Sekunden. Dann ist da wieder dieses dumpfe Rattern, das sich anhört wie ein Presslufthammer. Es sind die Schüsse eines Maschinengewehres. Nicht klar ist, wer gerade hinter der Brücke schießt. Sind es Peschmerga oder die Islamisten? Für Adel Raschid kein Grund, seinen Monolog über Kriegsführung zu unterbrechen – Kriegsführung gegen jene selbst ernannten Gotteskrieger, die seinem Freund bei lebendigem Leib die Nase und die Ohren abgeschnitten haben.

 

Die Kämpfer des Islamischen Staats (IS) harren in wenigen Hundert Meter Entfernung aus, um im richtigen Moment Raschids kleine Armeestellung zu überrennen. „Die warten nur darauf, uns umzubringen“, sagt der Oberst. Weil die Schießerei nicht mehr aufhört, geht er dann doch raus, um nach dem Rechten zu sehen. Drei seiner Männer zielen, atmen aus, drücken ab. Ruhe kehrt ein. Alles in Ordnung.

Ausgebrannte Karosserien am Straßenrand

In Qwer, einem Dorf etwa eine Autostunde südöstlich von der nordirakisch-kurdischen Provinzhauptstadt Erbil entfernt, versuchen Raschid und seine 17 Soldaten, den Feind aufzuhalten, notfalls auch umzubringen. Wer von Erbil aus an diese Front will, muss zahlreiche Checkpoints passieren. Die Landschaft ist baumlos, weit und flach. Überall liegt Müll. Am Boden wächst kaum ein Strauch, hinter dem man mit seiner Kalaschnikow kauern könnte. Ein paar ausgebrannte Karosserien stehen am Straßenrand. Erst vor drei Wochen haben die Kurden den Ort zurückerobert, den die Dschihadisten zuvor eingenommen hatten. Die geflohenen Bürger sind noch nicht zurückgekehrt.

Cigdem Akyol, Jahrgang 1978, ist freie Korrespondentin in Istanbul und schreibt unter anderem für die taz, die „Zeit“ und die FAZ. Foto: www.amelielosier.com
Überall sind die Spuren der Gefechte noch zu sehen. Die Mauern sind übersät mit Einschusslöchern. Lediglich das Vieh ist geblieben. Und die Peschmerga. So heißen die Soldaten der autonomen kurdischen Region im Nordirak. Zwar haben sie diese kleine Schlacht gewonnen, aber noch lange nicht den Bürgerkrieg.

Verachtung für die irakische Armee

Raschid und seine Einheit haben in einem leer stehenden Backsteinhaus ihr provisorisches Quartier eingerichtet. Vor der Tür steht ein Pick-up mit einem aufgesetzten Maschinengewehr. Auf dem Autodach weht die kurdische Flagge mit den Farben Rot, Weiß und Grün und der goldenen Sonne in der Mitte. Drinnen liegen dünne, alte Matratzen auf dem Boden. Zwischen Saft- und Kekspackungen lagern in den Zimmern Maschinengewehre und Munitionsgürtel. Nirgends sind persönliche Gegenstände zu sehen, keine Familienfotos, keine Souvenirs, die an ein Zuhause erinnern könnten. Für Sentimentalität ist hier kein Platz.

Es ist kurz nach zehn Uhr. Der Oberst steht mit einem Glas Tee in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand vor einer Irakkarte, die fast von der Wand fällt. Wenn er Angst haben sollte, lässt er sie sich nicht anmerken. Im Gegenteil, er strotzt vor Selbstbewusstsein. Mit einem Stift zeigt er von der syrischen Grenze aus in wellenförmigen Bewegungen schräg nach unten, an der nordirakischen Ölstadt Kirkuk vorbei, in Richtung Iran. Insgesamt, so sagt der schnauzbärtige 43-Jährige, teile das autonome Kurdistan nun eine 1050 Kilometer lange Grenze mit der Terrorgruppe im Irak und in Syrien. Wären die Peschmerga nicht eingesprungen, „wären die Terroristen jetzt hier“, höhnt Raschid und lächelt spöttisch. „Die irakischen Soldaten sind allesamt weggerannt.“ Und das, obwohl sie über modernste Waffen verfügten. Seine Verachtung für die irakische Armee lässt er immer wieder durchscheinen. Im Hintergrund sind wieder Schüsse zu hören.

Die dem Tod ins Auge Sehenden

Einige seiner Männer tragen die traditionellen weiten Hosen, die mit einem breiten Gürtel oben zusammengebunden sind, und turbanartig um den Kopf geschwungene Tücher. Andere tragen Uniformen, wieder andere eine Mischung aus beidem. Alle haben sie eine Kalaschnikow über der Schulter hängen. Es gibt weder Strom noch fließendes Wasser. Draußen sind es an diesem Vormittag 45 Grad Celsius. Schatten spendet nur das staubige Haus. Auch wenn sich eine gewisse Schläfrigkeit breitgemacht hat, ist die Spannung doch spürbar. Es ist zwar gerade ruhig, aber die Dschihadisten könnten jeden Moment angreifen. Peschmerga bedeutet übersetzt „die dem Tod ins Auge Sehenden“.

Seit die sunnitische Terrorgruppe IS ihren Vormarsch im Nordirak im Juni begonnen hat, überfiel sie wie im Rausch große Teile des Landes. Ihr rätselhafter Anführer, der Iraker Abu Bakr al-Baghdadi, zeigt sich selten öffentlich. Geschätzte 7000 IS-Kämpfer sollen im Irak im Einsatz sein. „Eine gute Handvoll“ deutscher Islamisten befinden sich darunter, heißt es aus deutschen Sicherheitskreisen. 1,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor ihnen, vor allem Minderheiten wie die Jesiden, Christen oder Turkmenen. Aber auch Schiiten fliehen vor dem Wahnsinn. Die meisten ziehen in Richtung Norden. Das Land steht am Abgrund.

Jeder Kurde sei ein Peschmerga

„Daisch“, so lautet die arabische Bezeichnung für den IS, ist ein harter Gegner für die Peschmerga. Die Dschihadisten sind keine Krieger in Badelatschen, die bei der ersten Eskalation wegrennen. Sie gelten als eine der reichsten Terrorgruppen der Welt. Der IS soll sich durch Einnahmen aus Ölfeldern, Entführungen, Enteignungen, Mautzahlungen und Spenden aus dem In- und Ausland finanzieren. Er ist berüchtigt für seine Brutalität. Zuletzt brüstete er sich mit der Hinrichtung von mehr als 160 Soldaten der syrischen Streitkräfte. Mit dem veröffentlichten Video, das die brutale Enthauptung des US-Journalisten James Foley zeigt, hat sie die ganze Welt erschüttert und aufgerüttelt. Die Peschmerga sind vielleicht die Einzigen, denen es gelingen könnte, die Terrormiliz zu stoppen.

Zu Raschids Einheit gehört auch Irfan. Der 18-Jährige hockt auf dem Pick-up, die Turnschuhe auf den Patronengurten des Maschinengewehrs. Er wirkt noch wie ein Kind. Für diesen Fronteinsatz hat er sein Ingenieurstudium unterbrochen. Ob er eine Ausbildung an der Waffe habe? „Nein, aber die brauche ich auch nicht“, sagt er. Jeder Kurde sei ein Peschmerga, heiße es im Volksmund. Er, Irfan, wolle für die Freiheit kämpfen – auch für die Freiheit seines Glaubens. „Was soll das für ein Islam sein, für den Daisch mordet?“, schimpft er. „Mit meinem Allah hat deren barbarisches Verhalten nichts zu tun.“

Die Geschichte der Peschmerga

Peschmerga sind kriegserprobt. Als Kämpfer für die kurdische Unabhängigkeit reicht ihre Tradition bis ins Osmanische Reich zurück. Auch Frauen gehören den Einheiten an. Für das Kommando ist ein eigenes Ministerium in Erbil zuständig. Peschmerga sind Regierungsangestellte. In Suleimanija gibt es ein „Amt für kurdische Märtyrer“, also für Peschmerga, die im Kampf gefallen sind. Hier werden die Angehörigen der Toten betreut. Sie erhalten eine Opferrente. Denn während der Diktatur Saddam Husseins kämpften sie für ihre Unabhängigkeit gegen die Zentralregierung in Bagdad. Saddam Hussein antwortete mit dem Einsatz von Giftgas. Tausende Menschen kamen ums Leben. Nach dem Krieg um Kuwait im Jahr 1991 bekamen die Kurden eine autonome Region, geschützt von den USA durch eine Flugverbotszone.

Seit 2003, seit die USA und Großbritannien in den Irak einmarschiert sind, sichern die Peschmerga die Außengrenzen von Irakisch-Kurdistan. Das Autonomiegebiet blieb vom Chaos im Restirak unbehelligt und konnte sich wirtschaftlich entfalten. Von dem kürzlich zurückgetretenen schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki wurden sie über Jahre hinweg gegängelt – ein zugesagtes Referendum über die Zukunft der nordirakischen Stadt Kirkuk beispielsweise kam nie zustande. Masoud Barzani, Präsident der kurdischen Regionalregierung, war selbst einst ein Peschmerga. Bis heute zeigt sich Barzani in der Öffentlichkeit auch meist in deren traditioneller Uniform.

Man könne sie als staatliche Armee betrachten

Anders als der martialische Name vermuten lässt, dürfe man sich die kurdischen Soldaten nicht als Guerillas vorstellen, sagt Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Man kann sie durchaus als staatliche Armee betrachten“, so der Politikwissenschaftler. Trotz innerer Zwistigkeiten seien die Kurden relativ schlagkräftig. „Es spricht für sich, dass die USA die kurdischen Truppen bei ihrer Unterstützung im Kampf gegen IS gegenüber der irakischen Armee bevorzugt haben“, unterstreicht Perthes. Etwa 130 000 Soldaten sollen den Peschmerga-Truppen angehören, schätzt der US-Thinktank Washington Institute. Andere Quellen sprechen von 200 000 Kämpfern. Angesichts der andauernden Kämpfe gegen die Dschihadisten rief Präsident Barzani auch pensionierte Soldaten auf, ihre früheren Militäreinheiten zu kontaktieren.

In Qwer flimmert die staubige Luft in der Vormittagshitze. Die Sonne steht senkrecht. Die Männer trinken Tee, rauchen, legen sich hin. Der Moment erinnert an Endzeitfilme, in denen die letzten Menschen auf der Erde auf den Feind warten, um endlich etwas machen zu können. Immer wieder sind Schüsse zu hören.

Dann ein lauter Knall. „Vielleicht irgendwo eine Explosion“, sagt Oberst Raschid und zuckt mit den Schultern. Bei denen drüben gebe es viele gute Scharfschützen, vor allem aus dem Ausland, etwa Tschetschenen, Afghanen, Pakistaner und Kämpfer aus anderen arabischen Ländern wie Saudi-Arabien und Syrien, die sich mit dem Kämpfen auskennen. Aber auch radikalisierte Europäer, die zu allem bereit seien. „Wir haben noch nie gegen solche Fanatiker gekämpft“, so Raschid.

Die dürftige Ausstattung der Peschmerga-Kämpfer

Die Kurden gelten zwar als diszipliniert, gut organisiert und hochmotiviert, aber die Peschmerga kämpfen hauptsächlich mit leichten und alten Waffen. Ihre Ausstattung stammt meist noch aus den Beständen der früheren Armee des 2003 gestürzten Langzeitherrschers Hussein. Dazu zählen russische Sturmgewehre des Modells AK-47 und Maschinengewehre. Waffen gegen gepanzerte Fahrzeuge besitzen die Kurden hingegen nur wenige. „Ohne die Hilfe der Amerikaner hätten uns die Terroristen vielleicht schon vernichtet“, sagt Raschid. „Unsere Gegner haben modernste Waffen, Panzer und Raketenwerfer – und sie werden nicht müde.“ Den Peschmerga hingegen fehle es an allem. Auch an Bodentruppen? „Wir nehmen jede Hilfe, die wir bekommen.“

Die internationale Gemeinschaft konnte sich lange Zeit nicht einigen, wie dem ansteigenden Grauen zu begegnen ist. Aber nach und nach beliefern immer mehr westliche Länder die irakischen Kurden mit Waffen für den Kampf gegen die Terrormiliz. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums schicken neben den USA nun auch Kanada, Kroatien und Albanien Kriegsgerät. Die Bundesregierung verschob eine für diese Woche erwartete Entscheidung über Waffenlieferungen auf Montag nächster Woche. Die ersten sechs deutschen Soldaten zur Verteilung der Militärhilfe sind bereits in der Kurden-Hauptstadt Erbil.

In Qwer herrscht wieder seit einigen Minuten Totenstille. Irfan und die anderen Männer kämpfen an diesem gottverlassenen Ort auch gegen die Langeweile. Auf einmal zielt Irfan einfach nach vorne, ins Nichts. Er atmet aus und drückt ab. Alles bleibt ruhig. Dann feuert er eine Salve in die Luft. Patronenhülsen kullern in den Sand. Irfan lacht. Er winkt dem Feind auf der anderen Seite der Brücke zu und zeigt das Victory-Zeichen.