Das Victoria & Albert Museum ehrt einen unkonventionellen Sohn der Britischen Inseln: Alexander Mc Queen hat die Modewelt auf den Kopf gestellt. Engel und Dämonen bevölkern seine Retrospektive.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Für mich gibt es nun kein Zurück mehr“, hat Alexander McQueen einmal zu Protokoll gegeben. Seine Zeitgenossen wolle er mit „auf Reisen nehmen, wie ihr sie nicht mal im Traum für möglich gehalten habt“. Wer mit dem toten König der Couturiers auf solche Reisen gehen will, kann in Londons Victoria & Albert Museum eine Karte zu „Savage Beauty“ (Wilde Schönheit) lösen. Irgendwo zwischen Traum und Albtraum eröffnet diese Show unglaubliche Horizonte – und provoziert Gefühle widersprüchlichster Art.

 

Eine Ausstellung möchte man sie gar nicht nennen, diese Retrospektive zum Werk eines ehemaligen Schneiderlehrlings, der mit 27 Jahren Chefdesigner bei Givenchy wurde und im Alter von 40 – vor fünf Jahren – seinem von Engeln und Dämonen bevölkerten Leben ein Ende gesetzt hat. Eher ist es ein rauschhafter Trip durch Welten spektakulären Designs und persönlicher Obsession geworden: Der Catwalk als Kunst, Einkleidung als Performance Art. Zugrunde liegt der Londoner Show die große Alexander-McQueen-Show, die New Yorks Metropolitan Museum of Art 2011, ein Jahr nach McQueens Tod, auf die Beine gestellt hatte. Das V&A hat das Met-Angebot um ein Drittel erweitert und manches stärker auf London bezogen. Nun lockt es mit fast 250 Stücken aus McQueens Produktion. 70 000 Eintrittskarten sind schon vor der Eröffnung verkauft worden. Hunderttausende Besucher werden in den nächsten Wochen nach South Kensington pilgern. McQueen selbst war im weniger glamourösen Osten der Stadt aufgewachsen. Mit 16 ging er von der Schule ab, um in der Luxus-Schneider-Straße Savile Row eine Lehrstelle anzunehmen. Damals ist er nach eigenen Worten schnell zum „rosa Schaf“ der Familie geworden.

Man muss die Regeln kennen, um sie brechen zu können

Die V&A-Retrospektive beginnt denn auch mit der kulturellen Verwurzelung. McQueens erste kühne Schnitte werden gezeigt vorm Hintergrund rauen Betons, der das alte London wachrufen soll. „In der Londoner Mode herrschte immer so viel Repression, da musste man dringend Leben hineintragen“, wird er in der Ausstellung zitiert. Das Metier hatte er gelernt, er konnte mitreden. „Man muss die Regeln kennen, um sie brechen zu können.“

Provokativ eingerissene Kleider, Knopforgien und skurrile Husarenwesten von damals deuten die weitere Entwicklung an. Von hier führt die Show, den großen Kollektionen zwischen 1992 und 2010 folgend, in zehn Räumen zu immer fantastischeren Kreationen. Umrahmte Glasschreine sind zu sehen, in denen sich Manteljäckchen aus goldgefärbten Gänsefedern spiegeln, und Kleider, die aus Altarbildern des 15. Jahrhunderts geschnitten sind. Aber auch die Gegenstücke sind da, McQueens „romantisch-gotische“ Ideen: schwarzgefederte Vogelfrauen, pechfarbenes Ledergeschirr, kühle Metallfäden und Reißverschlüsse, die Münder ersetzen sollen.

Kleider aus Haaren, Behang aus Latex

Als „schmerzlich schön“ bezeichnet das V&A diese finster anmutenden Schöpfungen. In der alten Heimat McQueens halten sich die Meinungen über dessen Designs indes die Waage. So sehr sie faszinieren, so sehr beunruhigen sie immer noch viele im Land. Mit aller Macht hat die V&A-Show den Streit über Aggression und Verletzbarkeit, über Panzerung und wiederkehrende Albträume, über McQueens Frauenbild und den von ihm selbst als Kind erlittenen sexuellen Missbrauch neu angefacht. Mit zunehmender Spannung führt die Ausstellung von hier immer tiefer in den Dschungel extravaganter und bizarrer Einfälle.

Da ist der wilde Trommelschlag des „romantischen Primitivismus“ in einem mit Knochen verkleideten Raum. Kleidung aus reich quellendem Haar gibt es zu sehen, Behang aus Latex, Schlamm und Perlenketten, Krokodilköpfchen als Zierleisten und Antilopenhörner, die gespenstisch aus Schultern wachsen. Daneben Trauermärsche eines kaledonischen Nationalismus, aufgelöste Schottenkaros und kristallglas-behängte Geweihe – den „Witwen der Schlacht von Culloden“ zu Ehren.

Auch exotischeres Erbe hat McQueen verarbeitet, Türkisches und Chinesisches, japanische Kimonos, sogar Baseball-Outfits haben als Vorlage gedient. Im „Naturalismus“-Raum gibt es Gewänder aus Vogelfedern, Muschelschalen oder aus Blüten, die irgendwann welken und beim Gang über den Laufsteg sanft zu Boden segeln.

Zwischen Qual und Vergnügen fehlt nicht viel

Das Herz der Show bildet McQueens „Kuriositäten-Kabinett“ – ein Raum von doppelter Höhe, der auf allen Seiten von bewegten und unbewegten Kostbarkeiten und Bildschirmen mit Modeschau-Reminiszenzen umgeben ist, wie eine flimmernde überdimensionale Puppenkiste. In dessen Mitte kann man sitzen, um McQueens Einfallsreichtum auf sich wirken zu lassen. Schuhe, die wie samtige Ambosse wirken, Flügeljacken, übermächtige Halsgehänge und Kettenhemden findet man hier aufgereiht, aber auch abstruse Masken, Riesenklemmen als Gesichtsaufsatz und silberne Dornenkronen. Zwischen Qual und Vergnügen fehlt nicht viel.

Es erscheint sinnvoll, dass das V&A zwischen Londons Naturhistorischem Museum und dem Modetempel Harrods angesiedelt ist. Sein Sommer-Highlight verdankt es einem der außergewöhnlichsten Künstler, die London in jüngsten Jahren hervorgebracht hat, nur um ihn gleich wieder zu verlieren. Als „triumphale Heimkehr“ McQueens feiert man die Londoner Raritätensammlung. „Wenn ich mal tot bin und für immer weg vom Fenster“, hat McQueen selbst vorausgesehen, „dann werden die Leute zumindest wissen, dass das 21. Jahrhundert mit Alexander McQueen begann.“