Gottlieb Rau wollte Württemberg zur Republik machen – notfalls auch mit Gewalt. Dein Feldzug der tausend Mann kam im Herbst 1848 nur bis Balingen. Er wurde ins Gefängnis gesteckt und starb im New Yorker Exil.

Balingen - Er lebt noch, der Gottlieb Rau, auch wenn er schon 160 Jahre tot ist. Widerborstige Typen wie ihn findet man heutzutage in Hongkong, auf dem Maidan in Kiew, auf dem Tahir-Platz in Kairo. Bevor der 1816 in Balingen-Dürrwangen geborene Bauernsohn seine Sehnsucht nach der Demokratie auf dem Hohenasperg büßen musste, war er politischer Korrespondent für eine Zeitung und Glasfabrikant im Limpurger Land. Er war ein Innovator, ein Mann mit wirtschaftlichem Ehrgeiz und Visionen, mobil, bildungshungrig. Die Zukunft stand ihm offen. Aber Gottlieb Rau hat sich in die Politik eingemischt.

 

An fünf Tagen im September 1848 versuchten Gottlieb Rau und seine Freunde, wieder Schwung in die ins Stocken geratene Revolutionsbewegung zu bringen. Von Rottweil ausgehend wollten sie einen bewaffneten Zug von etwa tausend Männern zu einer Volksversammlung nach Cannstatt führen, um dort die Republik Württemberg auszurufen.

Die tausend sind nur bis Balingen gekommen. Ihre Kundschafter hatten gemeldet, dass die erhoffte Massenbewegung entlang des Weges nach Stuttgart vollständig ausbleibe und dass bei Tübingen Militär bereitstehe. Aber es waren wilde und verrückte Tage, die eine Ahnung von Freiheit brachten.

Wie man weiß, scheiterte die Revolution von 1848/49, und erst hundert Jahre später, nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust, wurde in Deutschland eine stabile Demokratie errichtet. „Hätte es noch mehr Männer wie Rau gegeben, wäre die deutsche Geschichte anders verlaufen“, sagt Manfred Stingel. Er ist der Vorsitzende des Kulturrats beim Schwäbischen Albverein. Der erinnert nun mit einem 35-minütigen Film an den schwäbischen Agitator.

Der militante Demokrat polarisiert heute noch

Das Thema treibt Stingel schon länger um. Und nicht nur, weil er auch in Dürrwangen geboren ist. Dass es in dem zu Balingen gehörenden Ortsteil seit 1987 eine Gottlieb-Rau-Straße gibt, ist vor allem Stingel zu verdanken. Bis Bürger und Gemeinderäte überzeugt waren, kostete es ihn fast zehn Jahre Arbeit. Der militante Demokrat Gottlieb Rau polarisierte auch noch 130 Jahre nach seinem Tod. Ein „bedeutungsloser Spinner“ sei der Rau gewesen, argumentierten die Benennungsgegner. Manche Kommunalpolitiker verglichen die 1848er mit der RAF. Die Erinnerung an dieses Gezerfe empört Stingel noch heute – zumal man in der Zeit ohne viel Federlesens zwei Säle der Balinger Stadthalle nach zwei Künstlern mit Nazivergangenheit benannt habe.

Der Albverein gab im Revolutionsjubiläumsjahr 1998 eine mit vielen Illustrationen und Dokumenten versehene Publikation des Historikers Paul Sauer heraus. Schon 1991 hatte der Historiker und Journalist Klaus-Peter Eichele eine Ausstellung über Gottlieb Rau in Gaildorf initiiert und ein detailliertes Begleitbuch verfasst. Die Filmbiografie stützt sich auf die ausführlichen Arbeiten von Eichele und Sauer, in Teilen auf die Original-Zeitungsartikel und Reden Raus. Die Titelrolle spielt der aus Balingen stammenden Kabarettist und Rhetoriker Boris Retzlaff.

Gottlieb Rau muss ein einnehmender Mensch gewesen sein. Seine Zeitungsartikel, in denen er im Vorfeld der Revolution für die Demokratie warb, erhielten große Zustimmung. Zu seinen Reden in der Hochphase der Revolution im Spätsommer 1848 kamen Tausende Zuhörer. Er war gut aussehend. In Großerlach eroberte der junge Kaufmann das Herz von Katharine Wenzel, der älteren Witwe eines Glasfabrikanten. Die beiden heirateten 1839, im Jahr darauf starb Katharine. Sie hinterließ dem 24-Jährigen ein kleines Vermögen. „Aus dem armen Balinger Bauernsohn war innerhalb weniger Jahre ein wohlhabender Bürger geworden“, resümiert Klaus-Peter Eichele in der Biografie.

Der junge Witwer verlegte die Firma nach 1843 nach Gaildorf am Kocher. Sein Plan: die Begründung einer württembergischen Glasindustrie. Dafür warb er 40 Spezialisten aus dem technologisch führenden Böhmen an. Einige der Bierseidel, Saftbecher, Weingläser und Schalen aus der Rauschen-Produktion sind noch erhalten – eine ambitionierte Kollektion. 1844 heiratete Rau in Winterbach die vier Jahre ältere Christiane Eckstein. Deren Ehe mit dem Kronenwirt Johann David Retter war zwei Jahre zuvor auf ihr Betreiben hin geschieden worden. Christiane war offenbar eine für ihre Zeit ungewöhnlich selbstständige, selbstbewusste Frau – mit guter demokratischer Gesinnung und Vernetzung. Ihre Tüchtigkeit und wirtschaftliche Selbstständigkeit sollte der Familie später das Leben retten.

Glasfabrikant, Bierwirt und Politiker

Von 1845 an betrieben die Raus neben der Glasfabrik als zweites wirtschaftliches Standbein eine Bierwirtschaft. „Mit der Fabrik kam Gottlieb Rau auf keinen grünen Zweig“, schreibt der Rau-Biograf Paul Sauer. 1848 meldete die Firma Konkurs an. Wer oder was daran schuld war, ist nicht genau zu klären. Missmanagement oder die Verweigerung eines rettenden Kredits, wie Gottlieb Rau selber klagte. Sicher ist, dass der Industrielle mindestens zwei Mal Teilhaber auszahlen musste. Sicher ist auch, dass sich Rau damals immer stärker der Politik zugewendet hatte.

1845 begann er, für die oppositionelle Stuttgarter Tageszeitung „Der Beobachter“ wirtschaftspolitische Artikel zu schreiben. Angesichts der zunehmenden globalen Verflechtungen forderte er eine staatliche Unterstützung der württembergischen Industrie, unter anderem ein Handelsministerium und eine Landesbank. Wie die Wendung vom Gelegenheitstheoretiker zum Politiker erfolgt sei, sei nicht ganz klar, schreibt der Biograf Eichele. Er verweist auf zwei Antriebskräfte: eine tiefe Religiosität im Geiste des Pietismus. Eichele fährt fort: „Auf der anderen Seite dürfte die oft geäußerte Vermutung, Raus Wendung zum Politischen habe viel von der Kompensation eines geschäftlich Gestrauchelten an sich, auch ihre Berechtigung haben.“ Und warum auch nicht? Für einen Aufsteiger wie Gottlieb Rau muss die Enge in Württemberg geradezu erstickend gewesen sein.

Die revolutionäre Situation im Frühherbst 1848 schätzten Rau und die Seinen falsch ein. Was am 24. September mit einer fulminanten Bürgerversammlung in Rottweil begann, endete am 28. September mit der Verhaftung Raus in Oberndorf am Neckar. Eine Fluchtmöglichkeit in die Schweiz hatte er verstreichen lassen. Bis zum Beginn ihres Prozesses wegen Hochverrats am 20. Januar 1851 saßen Rau und elf weitere politischen Gefangenen auf dem Hohenasperg. 538 Mitstreiter waren zuvor vom König begnadigt worden. Das Urteil fiel am 31. März. Gottlieb Rau wurde zu 13 Jahren Festungshaft verurteilt.

König Wilhelm nahm Raus Aktivitäten offenbar persönlich. Erst im April 1853 gab er einem Gnadengesuch der Ehefrau Christine nach. Sie hatte versprochen, dass die Familie nach der Freilassung sofort in die USA auswandert. Sein Justizminister hatte ihn davon überzeugt, dass es sicherer wäre, wenn Rau außer Landes lebe. Weil die Staatsgewalt auch noch fünf Jahre nach der gescheiterten Revolution die Überzeugungskraft des Agitators fürchtete, wurde er in einer geheimen Aktion ins Dampfboot nach Le Havre überführt.

In New York führte die Familie Rau ein Hotel für deutsche Einwanderer. Gottliebs Gesundheit war durch den Zuchthausaufenthalt aber so zerrüttet, dass er schon im folgenden Jahr starb. Sein Grab ist auf dem Green-Wood-Friedhof in Brooklyn. Der Schwäbische Albverein hat dort vor einigen Jahren eine Gedenktafel aufstellen lassen.