Ein Arzt hat eine lesenswerte Geschichte der Tumorleiden geschrieben und dabei auch einen kritischen Blick auf die Geschichte der Therapien geworfen.

Stuttgart - Es war eine einfache Frage, die den jungen Onkologen in Verlegenheit brachte. Der Magenkrebs seiner Patientin war abermals zurück. „Ich kämpfe weiter“, sagte sie. „Aber vorher muss ich wissen, gegen was ich antrete.“ Siddhartha Mukherjee hatte keine Antwort parat. Das war im Jahr 2004, Mukherjee absolvierte gerade seine Facharztausbildung in Boston. Der klinische Alltag in der Onkologie, die Schicksale seiner Patienten – er war so nah dran, dass er das Gesamtbild aus den Augen verlor: Wo stehen wir im Kampf gegen den Krebs? Wie ist das Wesen dieser Krankheit? Kein Buch beantworte diese Fragen, fand Mukherjee. Er schrieb das Buch selbst – quasi nebenbei – und eroberte damit nicht nur die Bestsellerlisten, sondern gewann auch den renommierten Pulitzerpreis für das beste Sachbuch. Nun ist „Der König aller Krankheiten“ auf Deutsch erschienen.

 

670 Seiten Krebs, noch dazu von einem Wissenschaftler geschrieben, das verheißt für den Laien schwere Kost. Siddhartha Mukherjee ist mit seinem Erstlingswerk jedoch ein Kunststück gelungen: ein spannendes, elegant geschriebenes und kenntnisreiches Buch, das in der Tradition des erzählenden Journalismus steht. Die Hauptperson dieser Biografie ist kapriziös, sie gibt keine Interviews. Mukherjee nähert sich dem Krebs über diejenigen, die gegen ihn kämpfen. Darunter sind Patienten wie die persische Königin Atossa, die vor 2500 Jahren den blutenden Knoten in ihrer Brust von einem Sklaven herausschneiden ließ. Und die Kindergärtnerin Carla Reed, die sich im Boston unserer Tage mit letzter Kraft gegen ihre akute myeloische Leukämie zur Wehr setzt. Dominiert wird das Buch allerdings von minutiös recherchierten Geschichten der Krebsforscher und Lobbyisten, von ihrer Hoffnung und Hybris, den Sackgassen und Irrtümern.

Kein Mitleid mit den erkrankten Frauen

„Wir stellen uns Krebs als Geißel unserer Zeit vor“, sagt Mukherjee. „Das ist falsch. Krebs gehörte immer zu uns. Er wird heute lediglich sichtbarer, weil wir viele andere Krankheiten heilen können. Die Menschen werden älter, und damit steigen ihre Chancen, an Krebs zu erkranken.“ Was sich immer wieder wandelt, ist unsere Vorstellung von Krebs. Der griechische Arzt Claudius Galen war überzeugt, dass der Übeltäter ein Übermaß an schwarzer Galle sei. Einen Knoten herauszuschneiden, ist dieser Logik zufolge sinnlos. Vielmehr müsse das Gleichgewicht der Säfte wiederhergestellt werden. Seine Lehren hielten sich mehr als 1300 Jahre – bis der Anatom Andreas Vesalius 1530 partout keine schwarze Galle finden konnte, als er anhand von Leichenteilen den menschlichen Körper kartierte.

In den folgenden Jahrhunderten schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Der Tumor muss raus, meinte der amerikanische Chirurg William Stewart Halsted. 1877 tourte er zur Ausbildung durch Europa und sah den Großen seiner Zeit über die Schulter, darunter auch Richard von Volkmann, der eine Methode entwickelte, um Brustkrebs zu operieren. Doch der Krebs kam immer wieder, Volkmann stand vor einem Rätsel. Für Halsted war die Lösung klar: Offenbar seien an den Rändern Krebszellen zurückgeblieben. Man müsse einfach mehr herausschneiden, viel mehr. Mitleid mit den Frauen sei fehl am Platz.

1894 wagte Halsted es erstmals in Baltimore, einer Krebskranken die Brüste abzuschneiden und zusätzlich die Achselhöhlen bis zum Schlüsselbein auszuschälen. Fortan galt es jahrzehntelang als chirurgische Lehrmeinung: Beim Mamma-Karzinom müssen Brüste und die darunter liegenden Muskeln radikal entfernt werden. Egal wie groß der Tumor ist.

Jeder Krebs ist auf seine Art bösartig

Viel hilft viel, das ist ein Thema, das sich in der Geschichte der Krebsbehandlung wiederholt, egal ob es nun um die Operationen, die Chemotherapie oder die Bestrahlung geht. Wiederkehrend ist auch die Hoffnung, es gebe die eine Wunderwaffe gegen jeden Krebs. Inspiriert durch erste Erfolge der Chemotherapie verbündeten sich der amerikanische Wissenschaftler Sidney Farber und die Lobbyistin Mary Lasker, um dem Staat einen Forschungsetat abzutrotzen. „Mr. Nixon, Sie können Krebs heilen“, rief eine ganzseitige Werbeanzeige in der „New York Times“ dem Präsidenten zu. Mit Erfolg, denn Nixon erklärte 1971 dem Krebs den Krieg. Innerhalb der nächsten 25 Jahre solle die Krankheit heilbar sein. Der Termin verstrich; Krebs ist immer noch da.

Es gibt ihn nicht, den einen Krebs, betont Mukherjee immer wieder. Hinter dem Sammelbegriff verbergen sich Hunderte Krankheiten. In Anlehnung an den ersten Satz aus „Anna Karenina“ schreibt Mukherjee: „Normale Zellen sind einander ähnlich; aber jede bösartige Zelle wird unglücklicherweise bösartig auf ihre eigene Art.“ Anders als in den 70er Jahren beginnen wir mit Genetik und Grundlagenforschung, die Biologie der verschiedenen Krebsarten besser zu verstehen: „Jetzt können wir nach den jeweiligen Achillesfersen suchen, bestimmte Signalwege der Zellen gezielt angreifen“, sagt Mukherjee. „Die Geschichte lehrt uns, dass wir uns trotzdem einen skeptischen Blick bewahren müssen – auf die Schulmedizin genauso wie auf neue Lösungen.“ Mukherjees Buch hilft dabei, diese Skepsis zu entwickeln. Mit unzähligen Geschichten macht er deutlich, wie Wissenschaft – dieses Gebäude aus Versuch und Irrtum – funktioniert.

Siddhartha Mukherjee: „Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“. Dumont Buchverlag, 26 Euro.