Als Bundespräsident hat Richard von Weizsäcker wie ein Ersatzmonarch regiert. Am Mittwoch wird er 90 Jahre alt.

Berlin - Wie es einem Spross der alten deutschen Elite zukommt, war Richard von Weizsäcker ein ernster und würdiger Präsident, und ernst und würdevoll tritt er, der am Donnerstag 90 Jahre alt wird, immer noch auf. Das Gemütlich-Humorvolle, das seinen großen Vorgänger Theodor Heuss kennzeichnete, ist ihm fremd, von einer Ausnahme abgesehen.

Als Weizsäcker sich nach zehn Jahren Amtszeit 1994 vom Bundestag verabschiedete, sagte er: "Die Stafette ist übergeben. Sie haben mich glücklich überstanden." Zwar verzeichnet das Protokoll "Heiterkeit", aber Humor im eigentlichen Sinne war das nicht, sondern eher britisches Understatement, das sich Leute leisten, die sich ihres Wertes bewusst sind.

Dieser Hang zur Untertreibung schlug auch durch, als er sagte: "Es entspricht der angeborenen Bescheidenheit von uns Stuttgartern, uns selbst hintanzustellen." Er, der Typus des "verfeinerten und veredelten Schwaben", konnte so reden, denn er war am 15. April 1920 im Neuen Schloss zur Welt gekommen.

Sein Großvater war der letzte Ministerpräsident des Königs von Württemberg. Die Herkunft aus einer betont evangelischen Theologen- und Juristenfamilie gewährte Privilegien und prägte seine Ausbildung. Der Vater, Ernst von Weizsäcker, war Diplomat und kam in der Welt herum. So besuchte der Sohn nicht nur Schulen in Berlin, sondern auch in Dänemark und in der Schweiz.

Sicher auf diplomatischem Parkett


Nach dem Abitur studierte er in Oxford und Grenoble. Die dabei erworbenen Sprachkenntnisse kamen dem späteren Bundespräsidenten zugute. Er spricht fließend Englisch und recht gut Französisch. Das gab, verbunden mit einem noblen Gestus, seinen Auftritten im Ausland etwas Geschliffenes – was man nicht von allen Bundespräsidenten sagen kann. Selten ist die Bundesrepublik auf diplomatischem Parkett würdiger vertreten worden.

Seinen Militärdienst leistete Weizsäcker im Potsdamer Traditionsregiment Nummer 9 ab, das fast nur aus Adeligen bestand und deshalb "Graf neun" genannt wurde. Dort dachte und fühlte man preußisch-konservativ und verachtete den Emporkömmling Hitler. Nach dem 20. Juli 1944 hat das Regiment 19 Offiziere verloren, die sich am Widerstand beteiligt hatten. Während sein Freund Axel von dem Bussche sich mit Hitler in die Luft sprengen wollte – ein Vorhaben, das an widrigen Umständen scheiterte –, ist Weizsäckers Haltung in jener Zeit eher unklar; er äußert sich jedenfalls nicht dezidiert dazu.

Mit dieser Problematik hatte er sich dann nach dem Krieg auseinanderzusetzen, als sein Vater, Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Ribbentrop, im "Wilhelmstraßenprozess" in Nürnberg vor Gericht gestellt wurde. Die Alliierten machten ihn für Hitlers Angriffskrieg mitverantwortlich. Den Jurastudenten Richard von Weizsäcker traf das hart. Er fühlte sich herausgefordert, an der Verteidigung seines Vaters mitzuwirken und musste sich nun mit der unauflöslichen Problematik von Schuld, vergeblichem Bemühen und unvermeidlicher Verstrickung auseinandersetzen.

Verfechter einer liberalen, emanzipierten Bürgerlichkeit


Der Staatssekretär hatte Hitler für gefährlich gehalten und dann doch für ihn gearbeitet, angeblich um Schlimmeres zu verhüten. Dass Ernst von Weizsäcker ein Mann des Widerstandes war, hat er nie von sich behauptet – und das tut auch der Sohn nicht. Aber er attestiert dem Vater ein Widerstehen, das an Widerstand heranreicht.

Obwohl der Staatssekretär Deportationsbefehle unterzeichnete, hält ihm der Sohn zugute, bis zu seiner Versetzung 1943 an den Vatikan sei seinem Vater nicht klar gewesen, "was der Name Auschwitz bedeutete". In seiner Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 sagte der Bundespräsident hingegen, selbst den Durchschnittsdeutschen habe nicht entgehen können, dass Deportationszüge rollten, "sofern sie nur ihre Augen und Ohren geöffnet hatten". Der Widerspruch ist da und bis heute nicht aufgelöst.

Gleichviel, Nürnberg war für den jungen Weizsäcker ein "Lernort", der ihn dazu bewog, fortan für eine emanzipierte, liberale Bürgerlichkeit einzutreten. Dass das Datum des Kriegsendes ein "Tag der Befreiung" gewesen sei, wie er in seiner wichtigsten und besten Rede erklärte, war ein Schluss auch aus eigenen Nachkriegserfahrungen. Fortan kam es darauf an, "den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen und uns durch genaues Erinnern ehrlich zu machen".

Eine integrierende Kraft


Es blieb Franz Josef Strauß vorbehalten, Weizsäcker als "Spezialgewissenträger im Präsidentenamt" zu verhöhnen. Auch wenn Weizsäckers Rede zunächst nicht durchweg Beifall fand, so war sie doch für den nationalen Konsens und den Umgang der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit überaus bedeutsam. Schließlich gehört es zu den wichtigsten Aufgaben des Bundespräsidenten, eine integrierende Kraft zu sein.

Obwohl Mitglied der CDU seit 1954, zog es Richard von Weizsäcker eigentlich nicht in die Politik. Doch 1964, als er Leiter der Wirtschaftspolitischen Abteilung im Mannesmann-Konzern war, suchte ihn "der mir unbekannte Helmut Kohl" auf und bot ihm für die nächste Wahl zum Bundestag einen sicheren Wahlkreis an. Weizsäcker, eben erst zum Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentages gewählt, lehnte dankend ab. Vier Jahre später gab er dem Drängen nach und erlebte sogleich eine Überraschung: Kohl bot ihm die Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten an.

Doch die Proteste des konservativen Teils der CDU und vor allem der CSU ließen Kohl von seinem Plan abrücken, ohne Weizsäcker zu informieren. Der empfand das als Zumutung. Hier beginnt das Kapitel einer Entfremdung, die zu einer Dauerfeindschaft unter Parteifreunden führte. Fortan wahrte Weizsäcker zum Parteienbetrieb eine vorsichtige Distanz. Das Erlebnis war so prägend, dass er die Kritik an den Parteien zumal in seiner zweiten Amtszeit zu seinem bevorzugten Thema machte.

Weizsäcker bleibt unangreifbar


Andererseits hatte er Gefallen an dem Gedanken gefunden, Präsident zu werden. Dieses Ziel verfolgte er fortan, notfalls an Kohl vorbei. Zwischenzeitlich wurde er Regierender Bürgermeister von Westberlin. Dort erlangte er so hohes Ansehen, dass er sofort als Kandidat genannt wurde, als Bundespräsident Karl Carstens aus gesundheitlichen Gründen nicht wieder antreten wollte.

Kohl setzte alles daran, dem Kandidaten, der ihm zu liberal und unabhängig war, den Weg zu verbauen. Aber nun hatte Weizsäcker die stärkeren Bataillone hinter sich. Später rechnete er mit dem CDU-Chef ab und hielt ihm vor, sein Regierungssystem verbreite eine intellektuelle Schläfrigkeit, die zu nichts Gutem führe.

Trotz solcher gelegentlichen Schärfen blieb und bleibt Weizsäcker unangreifbar. Kritiker haben ihm vorgeworfen, in seinem Hang zur Perfektion sei er schon fast unpolitisch. Tatsächlich ist um ihn herum so etwas wie eine kritikfreie Zone entstanden, in der er zum unangefochtenen Ersatzmonarchen wurde. So eindrucksvoll er war und noch ist – er hat zwischen sich und die Politik eine Distanz gelegt. Er bleibt, was er immer war, ein Repräsentant.