Der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier singt das hohe Lied auf die Zeitung, wie sie einmal war: Sein Roman „Umbruch“ ist eine nostalgische Hymne auf das goldene Zeitalter des mit wahren und schönen Sätzen bedruckten Papiers.

Stuttgart - Menschen wie ihn muss man unter Artenschutz stellen. Sie sind vom Aussterben bedroht, weil ihnen die Lebensgrundlagen in unseren modernen Zeiten immer mehr abhanden kommen. Ihre Nahrung für Geist und Seele war und ist: Kunst! Sonst nichts. Ob Musik oder Malerei, ob Architektur, Literatur oder Theater: Kunst gilt ihnen als die erhabenste und wahrhaftigste Ausdrucksform der menschlichen Existenz, die anderen Ausdrucksformen wie Politik, Religion und dergleichen Nebensächlichkeiten weit überlegen ist. Wenn diese Menschen dann öffentlich über ihren Glauben schreiben, laden sie sich fatalerweise gerne mit jener Bedeutung auf, die sie ihrem Gegenstand beimessen – und aus beseelten Kunstjüngern werden beredte Kritikerpäpste, die im Bewusstsein der Unfehlbarkeit das Schöne vom Hässlichen, das Gelungene vom Missratenen scheiden. Auch Gerhard Stadelmaier hat auf diese Weise seine Kirche über Jahrzehnte sauber gehalten, zunächst im Feuilleton der Stuttgarter Zeitung, später dann der „Frankfurter Allgemeinen“ – und als er im vergangenen Herbst in den Ruhestand ging, verlor die deutsche Theaterkritik ihre letzte singuläre, über allem thronende Gestalt.

 

Das Paradies im Feuilleton

Dem Rezensieren hat Stadelmaier seitdem abgeschworen, dem Schreiben nicht. Jetzt liegt sein erster Roman vor. Er heißt „Umbruch“ und hält über weite Strecken das, was der Klappentext verspricht: eine „biographische Komödie“ inklusive „Liebeserklärung an die große Zeit der Zeitung“, die der 1950 in Stuttgart geborene Autor fröhlich miterleben durfte. Von Bleisatz und von Druckerschwärze schwärmt er in seinem Buch, von bockigen Verlegern und genialisch versoffenen Lokalredakteuren, von zwischen den Zeilen versteckten Botschaften und aus breiten Spalten heraus posaunten Verrissen. Er feiert das „Zaubermedium Zeitung“ mit einem Enthusiasmus, wie er sonst nur – in Glücksfällen – das Zaubermedium Theater zu feiern bereit war. Und er besingt das bedruckte, mit klugen und schönen Sätzen verzierte Blatt nicht zuletzt deshalb so hymnisch, weil es damals alle elektrisierte, die Leser und die Redakteure, die ihrerseits im Kulturressort eine verschworene, nur dem „Hochamt der Rezension“ verpflichtete Gemeinschaft bildeten – so zumindest hat es der Jungjournalist wahrgenommen, als er Anfang der siebziger Jahre in die „paradiesische Feuilletongesellschaft“ der Stuttgarter Zeitung zog.

Den prägenden Stuttgarter Jahren räumt Stadelmaier, der zunächst als freier Mitarbeiter, dann als Redakteur bis 1989 bei der StZ gearbeitet hat, den meisten Platz im „Umbruch“ ein. Vorgeschaltet ist die Zeit in Schwäbisch Gmünd, wo er katholisch aufgewachsen ist und bei der Lokalzeitung erste Schreiberfahrungen sammelte, nachgeschaltet die Zeit in Frankfurt, wo er bei der FAZ die „besten vier Jahre seines Berufslebens überhaupt“ verbracht hat, bevor er unter dem neuen Feuilletonchef Frank Schirrmacher offensichtlich weniger glücklich wurde. Aber halt: In seiner „biografischen Komödie“ vermeidet Stadelmaier jegliche Klarnamen wie der Teufel das Weihwasser, was nichts daran ändert, dass der episodische Entwicklungsroman des als „junger Mann“ auftretenden Erzählers als Schlüsselroman zu lesen ist. Schirrmacher beispielsweise heißt „Dr. h.c. Baby-Nero“, zum einen wegen seiner fragwürdigen Promotion, zum anderen wegen seiner „Zündeleien im Ressort“ – und so, bis zur Kenntlichkeit entstellt, mal bös ins Groteske gespitzt, mal zärtlich liebend ins Gute gebogen, lässt Stadelmaier auch alle anderen Figuren durch sein barockes, die Zeitläufte pointiert raffendes Welttheater paradieren, das seine Roman-Inszenierung eben auch noch ist.

Feigheit vor dem Feind

Dass er dieses Theater aber nicht an die Gegenwart heranführt, sondern bereits Mitte der neunziger Jahre an ein Ende kommen lässt, ist bezeichnend. Damals kündigten sich auch in der FAZ die modernen Zeiten an, mit denen Kunstmenschen vom Schlage eines Stadelmaiers nichts anfangen konnten. Das politische Debattenfeuilleton, ein „Feuilleton der nach Senf gierigen Frankfurter Würstchen“, ist ihm ebenso ein Graus wie die „Sonntagszeitung“, weil „man am Sonntag keine Zeitung brauche, sondern Besinnung, eventuell sogar einen Gottesdienst oder einfach seine liebe Ruhe“. Dem nachhaltigsten Umbruch indes, der digitalen Revolution in den Zeitungshäusern, weicht er aus. Das will er seinen in Nostalgie planschenden Erinnerungen dann doch nicht zumuten, all diese schlimmen Netz- und Klicksachen, weshalb er mit seiner Anekdotensammlung einfach aufhört, wenn es für ihn am Schönsten ist, eben nach den vier besten Berufsjahren überhaupt. Immerhin verschafft diese Feigheit vor dem Feind seiner literarischen Arbeitsbiografie eine überraschend milde und versöhnliche Grundstimmung – und ihm, als Autor, auch.

Im „Umbruch“ vollzieht Stadelmaier eine bemerkenswerte Wandlung: Vom gnadenlosen, republikweit gefürchteten Scharfrichter wird er zum heiteren Kulturpessimisten, der selbst seine genialen Sottisen noch in flauschigste Watte packt. Er versteckt sie in ausholenden und verschlungenen, an Heimito von Doderer und Thomas Bernhard geschulten Satzperioden, die sich mit zehn, fünfzehn Zeilen oft nicht begnügen wollen. Auf der Suche nach Subjekt, Prädikat und Objekt muss man mehr als einmal Wege wie auf dem Frankfurter Flughafen zurücklegen, was das Lesevergnügen dann doch etwas schmälert. Grammatikalisch steht am Ende freilich alles an seinem richtigen Platz. Anders als der barocke Satzbau aber ist die Zeitungswelt, der sich der nicht mehr ganz so junge Mann heute ausgesetzt sieht, nicht mehr in Ordnung. Trost kann da also nur noch eine perfekte Inszenierung bieten, die im vorliegenden Fall naturgemäß eine perfekte Selbstinszenierung sein muss. Regie und Hauptrolle: Gerhard Stadelmaier, als Autor und Zeuge sich stilisierend zu einer der letzten singulären Gestalten des untergehenden Gutenberg-Zeitalters – eine kleine hübsche Komödie, für die er einen kurzen Applaus dann schon verdient hat.

Gerhard Stadelmaier: Umbruch. Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien. 222 Seiten, 22 Euro.

Gerhard Stadelmaier stellt seinen Roman am Mittwoch, 28. September, um 20 Uhr im Stuttgarter Literaturhaus vor. Moderiert wird die Veranstaltung von Helmut Böttiger.