Auf der heutigen Gleisgelände hinter dem Hauptbahnhof soll in gut zehn Jahren ein neuer Stadtteil entstehen. Erstmals waren Bürger gefragt, wie sie sich das neue Quartier vorstellen. Die Ideen fielen für eine Großstadt ziemlich idyllisch aus.

Stuttgart - Das Rosensteinquartier hinterm Hauptbahnhof darf man sich idyllisch vorstellen, abwechslungsreich und in kleinem Maßstab bebaut, vor allem mit bezahlbaren Wohnungen und ruhigen Innenhöfen, Läden und Gastronomie, und viel Grün drum herum; womöglich gibt es sogar „Stückle und Gärtle“. Es ist nicht perfekt und wird auch nicht auf einen Schlag fertig, es ist aber identitätsstiftend und kulturell auch deshalb höchst abwechslungsreich, weil Eisenbahndenkmale wie Gleisbogen, Lokschuppen und Überwerfungsbauwerke erhalten bleiben.

 

So stellen sich jedenfalls jene rund 300 Bürger die Zukunft des 85 Hektar großen Areals vor, das im Zuge der Tieferlegung des Hauptbahnhofs frei geräumt wird, die am Samstag bei der ersten öffentlichen Veranstaltung der Bürgerbeteiligung unter der Leitung von professionellen Moderatoren im Rathaus dabei waren. Ohne über politische Vorgaben und technische Rahmenbedingungen informiert zu sein, haben sie frei von der Leber weg ihre Wünsche auf Packpapier geschrieben, sie gegenüber Initiativen wie dem Info-Laden im Nordbahnhofviertel oder dem Verein Rosensteinbrücke erläutert und nach konstruktivem Austausch in acht Dialogforen im Plenum vorgetragen.

Die Baufläche ist für die Stadt eine große Chance

OB Fritz Kuhn (Grüne), der sicher gerne im Stadion das Spiel des VfB gegen die Bayern verfolgt hätte, war nach einem langen Samstag zufrieden. Die Bürger hätten ein tolles Engagement gezeigt, auf das sich aufbauen lasse, sie hätten das Rathaus auch besser informiert verlassen. Zu Beginn hatte er die Notwendigkeit formuliert zu wissen, „was der Bürger vorhat und vorschlägt“. So eine Fläche gebe es nie wieder, sagte Kuhn, der allerdings auch deutlich machte, dass die Bürgerbeteiligung lediglich einen informellen Charakter habe. Letztlich entscheide der Gemeinderat, der im Rathaus diesmal nur durch Grüne und SPD vertreten war. Ein Umstand, den Baubürgermeister Peter Pätzold kritisierte.

Die Moderatoren Beate Voskamp und Stefan Kessen erklärten die Teilnehmer zur „Stadtgesellschaft“, als gleichwertige Partnerin von Experten, deren Erkenntnisse später in eine Checkliste für die politischen Entscheider münde. Kuhn kennt die Leitplanken schon, zwischen denen sich die Planung für das allerdings frühestens in zehn Jahren entwicklungsbereite Gebiet bewegen wird: Gemeinsames Wohnen und Arbeiten, Energie-plus-Quartier, emissionsarmer Verkehr. Sie widersprechen den Forderungen der Bürger nur in einem Punkt: Der Oberbürgermeister zöge im Herzen der Stadt ein urbanes Stadtviertel einem ultraidyllischen vor. Eine wachsende „Schwarmstadt“, die unter erheblichem Mangel an bezahlbarem Wohnraum leidet, müsse die Chance, Grund und Boden an entscheidender Stelle ihr Eigen zu nennen, wahrnehmen. Dafür gibt es bereits politische Entscheidungen: Stuttgart 21 ist im Gemeinderat als Städtebauprojekt beschlossen worden. Spätestens seit 2009 ist es Konsens, die grünen Stadtränder aus stadtklimatologischen Gründen von einer Bebauung frei zu halten und der Innenentwicklung den Vorrang einzuräumen; allein schon deshalb, weil im Zentrum der öffentliche Nahverkehr bereits gut ausgebaut ist.

Nicht alle Fraktionen waren vertreten

Die Forderung nach einer qualitativ hochwertigen Verdichtung und der Priorisierung des Rad- und Fußgängerverkehrs wurde nicht nur im Rahmen der Bürgerbeteiligung erhoben, auch beim Fachkongress der baden-württembergischen Architektenkammer in dieser Woche war das Konsens. Europäische Vorzeigestädte wie Zürich, Wien oder Kopenhagen setzen darauf. Auf Podien und in den Fachzirkeln sind neben der intelligenten Verdichtung von Quartieren, der Absage an großflächigen Einzelhandel und ebenerdige Parkflächen und der Aufstockung von Gebäuden viele Ratschläge unterbreitet worden, die in Stuttgart längst Standard sind: das Innenentwicklungsmodell SIM, das Investoren zwingt, neben Gewerbe auch Wohnungen zu bauen, die Umwandlung des Baurechtsamts in eine Dienstleistungsbehörde und eine Bodenvorratspolitik – auch wenn Letztere noch intensiviert werden sollte.

Das fordert SÖS-Linke-Plus, die man bei der Bürgerbeteiligung vergeblich gesucht hat. Die S-21-Gegner halten die Veranstaltung für eine Farce, da die Bebauung der Gleisflächen strittig sei. Die Frage stelle sich nicht, betonte demgegenüber Baubürgermeister Peter Pätzold in Streitgesprächen mit Projektgegnern. Es ist ihm allerdings nicht gelungen, sie von seiner Meinung zu überzeugen. Das angestrebte „(Wieder-)Zusammenfinden der Stadtgesellschaft“ wird mit weiteren Veranstaltungen im Juni und September fortgesetzt.