Der Privatsender RTL überrascht mit der blendend gemachten Spionageserie „Deutschland 83“. In der Hauptrolle: Jonas Nay, der sich vom naiven Jungen zum Top-Spion in DDR-Diensten entwickelt.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Packende Zeitgeschichte, zeitgemäße Serienware made in Germany – „Deutschland 83“ (Start am 26. November) ist beides. Diese Serie sollte man nicht verpassen! Der Spionage-Achtteiler mit Jonas Nay als Stasi-Undercover-Agent bringt den Wahnwitz der heißen Phase des Kalten Krieges zurück in die Wohnzimmer – mit Pershing-II-Raketen im Westen und Nuklearkriegsgelüsten im Osten. Dazu gibt es jede Menge Mensch-weißt-du-noch-Momente: „99 Luftballons“, Frieden schaffen ohne Waffen, Floppy-Disc und Walkman – in der RTL-Produktion aus dem Hause Ufa Fiction erstehen die Achtziger wieder auf.

 

Martin Rauch (Jonas Nay) ist ein blasser NVA-Soldat mit ausgeprägtem Familiensinn, der mit seiner nierenkranken Mutter (Carina Wiese) und seiner Freundin Annett (Sonja Gerhardt) zufrieden in Kleinmachnow bei Berlin lebt. Nur hat er das Pech, dass seine Tante Lenora (Maria Schrader) eine hochrangige Mitarbeiterin des DDR-Auslandsgeheimdiensts HVA ist und er von ihr – auf Betreiben ihres Vorgesetzten Schweppenstette (Sylvester Groth) – für einen Spionageauftrag auserkoren wird.

Getarnt als Moritz Stamm, Ordonnanzoffizier des Bundeswehr-Generals Edel (Ulrich Noethen), soll er die Pläne für das Nato-Manöver „Able Archer“ auskundschaften. Das Westbündnis simuliert zu Übungszwecken den Atomkrieg; in Moskau und Ost-Berlin hingegen will man an einen echten Erstschlag glauben und schickt sich an, zuerst auf den roten Knopf zu drücken. Moritz gerät, noch während er sich mit dem gegen seinen Vater, General Edel, rebellierenden Kameraden Alex (Ludwig Trepte) und dessen Bhagwan-beseelter Schwester Yvonne (Lisa Tomaschewsky) anfreundet, immer tiefer in den Sog der geheimdienstlichen Verstrickungen – und verliert dabei seine Unschuld.

Böll in Mutlangen, Brandt in Bonn

„Deutschland 83“, geschrieben und produziert von dem amerikanisch-deutschen Ehepaar Anna und Jörg Winger (Mitproduzent Nico Hofmann), bricht mit seiner fesselnden Figurenerzählung die große Weltpolitik auf eine Handvoll Individuen herunter. Die Serie, die bereits im Februar auf der Berlinale sowie bei ihrer Erstausstrahlung im US-Spartenkanal Sundance TV im Juni die Kritik begeisterte und inzwischen in viele europäische Länder verkauft wurde, ist vieles zugleich: Spionage- und Politthriller, Familiengeschichte, Liebesdrama, Coming-of-Age-Story. Ein Ansatz, der im coolen Intro offenbar wird. Zum treibenden Takt von New Orders „Blue Monday“ flimmern historische Aufnahmen über Nays nackten, von abstrahierten Grenzlinien gespaltenen Oberkörper. Auch in den Plot webt die Regie (Edward Berger, Samira Radsi) immer wieder Dokumentarschnipsel hinein: Böll in Mutlangen, Brandt im Bonner Hofgarten. Jede Einstellung ist optisch, architektonisch vom Zeitgeist durchdrungen, die Achtziger werden aber auch in die Handlung eingespeist: Aids-Alarm, die aufkeimende DDR-Opposition, Udo Lindenberg im Palast der Republik. Das Ganze sattsam grundiert vom Sound der Eighties der vor allem Zuschauer, die damals im Sturm und Drang waren, flashbackartig ins Geschehen hineinzieht.

Und für die Jungen von heute wird ein absurdes Kapitel der Zeitgeschichte aufgeschlagen, das sie wohl nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen dürften. So wie Jonas Nay. Der wandelt sich im Laufe der 360 Minuten überzeugend vom kreuzbraven Jungen, in dessen treuherzigem Blick nur die Narbe über der linken Augenbraue irritiert, zum Topspion, der seine Skrupel hinter sich lässt, sich schlussendlich aber doch seinem Gewissen stellt. Er sei nach der Lektüre der Drehbücher für die ersten beiden Folgen „total geflashed“ gewesen, erzählt der Schauspieler im Gespräch mit der StZ. „Das ist keine Kopie von etwas Bestehendem, sondern etwas ganz Neues, und das zeichnet eine gute Serie aus“, sagt Nay, der mit seinen 25 Jahren schon eine lange Liste vielbeachteter und preisgekrönter Filme vorweisen kann.

Serie wurde zuerst in den USA ausgestrahlt

Die Regie trumpft mit perfekt komponierten Bildern auf, die immer eine Spur über der Wirklichkeit zu liegen scheinen. Die an markanten historischen Ereignissen orientierte Handlung wird von Anna Winger und ihrem Autorenteam zwar mit einem dezidierten Interesse an den deutsch-deutsch Befindlichkeiten dieser Ära, aber ohne Atempause vorangetrieben: Geschichte wird gemacht. Sich glaubhaft entwickelnde Charaktere, souveräne Schauspieler, sparsame Action und ein sehr schöner, leiser Humor prägen die Produktion, deren Spannungsbogen den Zuschauer unweigerlich von einer Folge zur nächsten treibt.

Die Erstausstrahlung einer deutschen Serie im US-Fernsehen ist ein Novum. Dass sich die Amerikaner für die Produktion begeisterten, hängt nach Ansicht von Jonas Nay mit der „globalen Dimension der Thematik Kalter Krieg“ zusammen, aber auch die deutsch-deutsche Geschichte und besonders die Erzählung aus der Sicht eines Stasi-Spions hätten das Interesse geweckt. Nay, selbst ein Fan der modernen Serienkultur, hofft auf möglichst viele neue Formate in der Qualität von „Deutschland 83“: „Wir haben einen sehr schönen Piloten hingelegt.“ Vertreter seiner Generation schauen gute Serien am liebsten kompakt oder gar am Stück. Dem wird – einziger Wermutstropfen – der auf einen Monat gestreckte Ausstrahlungsmodus nicht gerecht.