Weihnachtsmänner im August? Schokohasen im September? Globalisierung und Digitalisierung verändern die Art, in der wir den Jahreslauf strukturieren, schreibt der StZ-Kolumnist Peter Glaser.

Stuttgart - Das Ordnungsgefüge der Jahreszeiten ist in Bewegung geraten und damit verbunden ein bedeutendes kulturelles Zeitmaß: die Saison. Waren Kirschen und Erdbeeren im Winter noch vor ein paar Jahren exotische Luxusphänomene, so ist frisches Obst, unabhängig von herkömmlichen Erntezeiten, zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Globalisierte Transportstafetten lösen die Strukturen auf, die den Jahreslauf aufgeteilt haben. Früher gab es bestimmte Dinge zu bestimmten Zeiten; heute führt weltweite Mobilität dazu, dass die Warenflüsse immer unaufhörlicher strömen. Worüber man einst gescherzt hat, ist nun Realität. Inzwischen kann man gelegentlich schon Ende August die ersten Weihnachtsartikel in den Supermärkten sehen. Die Konvergenz von Osterhase und Weihnachtsmann wird durch das unausrottbare Gerücht am Leben erhalten, es gebe eine einheitliche Gussform für Schokohasen und Schokoweihnachtsmänner (Osterhasenohren = Weihnachtsmannmütze) und nur das bedruckte Silberpapier würde jeweils ausgetauscht.

 

Motor dieser grenzüberfließenden jahreszeitlichen Beschleunigung sind die Digitalisierung und das rund um die Uhr geöffnete Internet. War etwa die Buchproduktion herkömmlich in eine Frühjahrs- und eine Herbstsaison geteilt, haben auch Verlage inzwischen begonnen, ihre Auslieferungstaktik umzustellen. Bücher erscheinen nun ständig. Früher kam einmal am Tag die Post und abends um acht in der „Tagesschau“ das Neueste aus der Welt. Heute kommt der Briefträger ständig: Mit E-Mail, SMS, Facebook, Twitter & Co. ist es fast wie im Krieg – man kann jederzeit, elektronisch jedenfalls, unter Beschuss geraten.

Die Dinge haben keine Zeit mehr, alt zu werden

Auch die Mode verteilt sich feinkörniger übers Jahr. Zunehmend läuft man Gefahr, dass etwas Eingekauftes bereits auf dem Weg zum Auto unmodern wird. Rituelle Festlegungen wie Frühjahrs- und Herbst-Kollektion sind nur noch begriffliche Nachklänge. Kollektionen wechseln in den Läden internationaler Modeketten oft schon nach ein paar Wochen. Computergestützte Logistik ermöglicht es, den „Trouser Cycle“ auf eine bemerkenswerte Geschwindigkeit hochzudrehen. Auch erfolgreiche Artikel verschwinden aus den Regalen – paradoxerweise eine erfolgreiche Taktik, denn die Kunden wissen: Wenn sie sich nicht beeilen, sind viele Artikel, die sie gern hätten, nicht mehr im Sortiment. Und wenn Modeläden alle paar Tage mit neuer Ware beliefert werden sollen, funktioniert das nur durch Rückgriff auf regionale Hersteller – indem die Wege zwischen Produktion und Verkauf verkürzt werden. Nachdem Hersteller erst in Billiglohnländer ausgewichen sind, erweist sich in der nächsten Phase des wirtschaftlichen Wandels die Globalisierung schon wieder als Nachteil.

Auch ein Wunschtraum von Couturies und Modebegeisterten könnte bald Wirklichkeit werden. Das Problem der modischen Frequenzwechsel wird sich in dem Augenblick erübrigen, in dem man sich mit Lichtgeschwindigkeit umziehen kann. Dies werden farblich und strukturell umschaltbare Gewebe ermöglichen, die saisonal unterschiedliche Kleidungsstücke überflüssig machen – ein Knopfdruck, und der Stoff ändert sich nach Wunsch, sei es ein Autositzbezug oder eine Abendrobe. Der behäbige Rhythmus der Saison wird überholt von einem Alles-immer-überall. Atemlos sind wir von der Geschwindigkeit, in der das Neue immer schneller neu sein muss. Eine Aufregung, ein Flimmern, ein Abenteuer. Und was nicht mehr neu ist, hat gar keine Zeit mehr, alt zu werden.