Dank Augmented Reality könnten wir den Schmuck der Zukunft an den Betrachter anpassen: jeder bekommt eine andere Version zu sehen.

Stuttgart - 1935 verfasste der Philosoph Walter Benjamin einen bemerkenswerten Essay unter dem Titel „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Er ging darin auf den Wandel der Kunst durch Fotografie und Film ein. Durch die Möglichkeit der massenhaften Reproduktion würden Kunstwerke, herkömmlich Einzelstücke, die Aura des Originals einbüßen.

 

Nun kehrt die von Benjamin betrauerte Aura nicht nur des Kunstwerks wieder zurück – wieder getragen von einer neuen Technologie, diesmal der digitalen: augmented reality (AR) – erweiterte Realität. Anders als bei der virtuellen Realität (VR), in die man ganz eintaucht, fügt AR dem, was man herkömmlich als Realität wahrnimmt, nur ein paar weitere Informationen hinzu. Anwendungen für diese erweiterte Realität sind etwa eingeblendete Bandenwerbung bei Sportveranstaltungen oder die Möglichkeit, seine Wohnung probeweise mit Möbeln einzurichten, indem man die Räume durch die Kamera auf seinem Smartphone betrachtet und sich – mit einer kleinen App – die passenden Einrichtungsgegenstände in 3D dazu einblenden lässt. Bekanntestes Beispiel eines AR-Systems ist die Google-Brille „Glass“. Je nachdem legt sie eine neue Ebene über die sichtbare Welt, Richtungspfeile in einem Navigationsprogramm für Fußgänger etwa, die aktuellen Wetterdaten oder eine gerade eingetroffene E-Mail.

Wir umgeben uns mit einer Datenaura

Mit dieser körpernahen Technologie, die uns nun mit Smartphones in der Hosentasche, Smartwatches und Fitnesstrackern bereits auf den Pelz gerückt ist, umgeben wir uns mit einer Daten-Aura. Diese Daten-Erweiterungen unserer selbst können wir auch mit anderen teilen. Wir können ihnen zeigen, wo wir sind, welche Strecke wir gerade entlanggelaufen sind und wenn wir möchten auch, wie unser Herz gerade schlägt.

Im kalifornischen Almaden Research Center von IBM hatte die Juwelierin Denise Chan mit einem Wissenschaftlerteam schon vor 15 Jahren smarter Schmuck entwickelt, kleine Lautsprecher in Ohrclips statt Telefonhörer etwa („Hearing with an earring“), oder farbig pulsierende Ringe, die anzeigen, dass jemand anruft. Mode spielt eine wichtige Rolle, um Technologie freundlicher, nützlicher und attraktiver zu machen. Die Preziosen gehörten zu den vielfältigen Versuchen, sie möglichst nahtlos in den Alltag zu integrieren. Jetzt wird der analoge Schmuck komplett digitalisiert. In dem Blog Sickfuture ist eine mögliche Zukunft der Halskette zu bewundern: elegante Lichtspuren am Hals einer Frau, wie von winzigen Meteorschwärmen, die nur für denjenigen zu sehen sind, der ein AR-taugliches Gerät besitzt.

Jeder Betrachter bekommt etwas anderes zu sehen

Der Möglichkeiten sind viele. Man könnte seinen Schmuck in dieser Form sogar so individualisieren, dass jeder Betrachter etwas anderes zu sehen bekommt – während das Date eine prachtvoll funkelnde Kopie des Koh-i-noor-Diamanten bewundern darf, sollen die Freunde, die man zuvor noch trifft, nicht durch zu viel Gepränge beunruhigt werden. Sie sehen etwas, das schick, aber reduziert ist. Es könnte Probleme wie beim 3D-Druck geben, wenn man die perfekte Illusion eines Meisterstücks seiner Datenaura hinzufügen möchte und sieht, dass es aus Copyrightgründen nicht geht. Aber warum sollte man einen solchen Datensatz, einen herrlichen Hauch von Licht, nicht kaufen? Bei Sickfuture sieht man die Schönheit von morgen noch viel radikaler. Warum als unvollkommene Erscheinung auftreten, wenn es auch vervollkommnet geht, sozusagen Photoshop in Echtzeit?