Wearable Computing einmal anders: ein Startup bringt einen digitalen Schuh heraus. Er zeichnet nicht nur die Wege auf, sondern zeigt dem Träger durch Vibration auch den Weg. Das lässt einen neuen Schu(h)b an Kontrollwahn befürchten, findet der StZ-Kolumnist Peter Glaser.

Stuttgart - Warum ein Schuh „Indiens Antwort auf Google Glass“ sein soll, wie es das „Wall Street Journal“ behauptet, will sich einem nicht gleich erschließen. Zwar ist der betreffende Schuh vernetzbar, und ja: er führt auch Aufzeichnungen durch. Wie jeder andere brave Fitnesstracker zeichnet er die Geh- oder Laufstrecke auf.

 

Die Gemeinsamkeit mit Google Glass liegt darin, dass sowohl die kontroverse Brille als auch der Schuh den Träger durch die Welt navigieren möchten. Der indische Schuh vibriert an verschiedenen Stellen im Schaft, um die richtige Richtung anzuzeigen. Die Idee dazu entstammte ursprünglich der lobenswerten Absicht, Blinden eine bessere Orientierung zu ermöglichen. Zwar kann man mit einem Blindenstock Kanten und Hindernisse ertasten, nicht aber die richtige Richtung. „Le Chal“, so der Name des E-Schuhs, heißt auf Hindi „Nimm mich mit!“

Zwei indische Ingenieure haben in der Stadt Secunderabad das Startup Ducere Technologies gegründet und bringen nun das rund 100 Euro teure Gehprodukt auf den (indischen) Markt. Einer der beiden Gründer, Krispian Lawrence, war zuvor in den USA Anwalt für Patentfragen und hat die Schuhe durch eine Reihe internationaler Patente schützen lassen. Bei Tests zeigte sich, dass die Schuhe auch von Sehenden erfolgreich genutzt werden können. Jogger, Mountainbiker oder Touristen können ihr Ziel einer Smartphone-App mitteilen und müssen so auf dem Weg nicht mehr anhalten – das Vibrieren in den Schuhen weist sie darauf hin, dass sie abbiegen müssen.

Eine tradierte Ungerechtigkeit wird beseitigt

Natürlich können einem dazu auch noch andere Möglichkeiten einfallen, etwa die Arbeit in einem Logistikzentrum, in dem ein Arbeiter im Hochbetrieb 10 bis 18 Kilometer pro 10,5-Stundenschicht zu Fuß unterwegs ist. Ein Handscanner weist ihn an, wie viele Sekunden er hat, um das nächste Lagerobjekt zum Versand herauszusuchen, bei Fehlern piept es. Vorgesetzte kontrollieren die Leistung und treiben die Arbeiter an. Auch bei diesem Konzept von Effizienz, bei dem Menschen von Maschinen in maschinenähnliche Wesen verwandelt werden, wäre es von unternehmerischem Vorteil, wenn die Arbeiter auf dem Weg zum Ziel nicht mehr anhalten müssten, um sich an den Kreuzungen der Regalstraßen zu orientieren, sondern stattdessen der Schuh dafür sorgt dass stetig und in die richtige Richtung gegangen wird.

Auch Varianten der elektronischen Fußfessel wären denkbar, mit zuverlässiger Außensteuerung und speziellen Sanktionsmechanismen im Schuh („Sie erhalten einen Stromstoß“) könnten zum Beispiel amtsbekannte Stalker davon abgehalten werden, bestimmte klar definierte kartografische Bereiche aufzusuchen. Interessant könnte Le Chal auch für militärische Zwecke sein, etwa durch die Möglichkeit, im Gefecht stumme Befehle zu erteilen oder das einheitliche schnelle Bewegen von Einheiten noch besser zu choreografieren.

Letztlich kann der summende Schuh auch dazu beitragen, eine seit Jahrhunderten tradierte Ungerechtigkeit im Bereich der Kunst zu beseitigen. In der Oper nämlich haben bis heute nur die Sänger spezielle Hilfe, wenn ihnen ihr Text entfallen sollte. Dann hören sie vom Souffleur. Der indische E-Schuh Le Chal lässt indes erstmals zu, dass nicht mehr nur Ohren, sondern auch Füßen eingeflüstert werden kann, sofern sie gerade einmal nicht wissen, wie sie sich weiter bewegen sollen und – sagen wir in Wagners „Fliegendem Holländer“ („Ihr Welten, endet euren Lauf!“) – aufs Geratewohl drauflosgehen. Mit diesem digitalen Schuh darf endlich auch einmal das Ballett den nächsten Schritt schlicht vergessen.